Das tote Kind und das Meer

Ein Bild geht um die Welt – ein totes Kind am Strand – und alle empören sich, auch solche, die die Pietät verletzt sehen. Natürlich ist es schlimm, was da zu sehen ist, aber ich kann mich täuschen, wenn ich sage, dass ich seit Jahren nichts anderes in den Medien sehe. Da werden zerfetzte Menschen vor Kirchen und Moscheen gezeigt, Holocaustopfer flimmern seit Jahrzehnten tagtäglich über den Bildschirm und auch Veganer machen vor Bildern schlimmster Art nicht halt.

Bevor sich nun jemand über den Vergleich zwischen eine Flüchtlingskind und einem geschlachteten Tier erregt, sei gesagt, dass es darum hier nicht geht. Es geht darum, dass wir uns im Internet in einem starken visuellen Medium befinden. Und da ist es eben so, dass man (meist extreme) Bilder einsetzt, um Dinge zu bewegen. Denn mehr als jeder kilometerlange Text, der da durchs Netz geistert und uns eindringlich zu erklären versucht, was wir doch mittlerweile eh alles wissen, subsummiert ein solches Bild doch eben genau das: Die Unfassbarkeit dessen, was sich da abspielt, und genau darum geht es: Das Unfassbare eben fassbar zu machen und genau dazu braucht es diese Bilder.

Ohne solche Bilder würden wir doch gar nicht begreifen, was in der Welt passiert, weil viele von uns es eben auch nicht müssten. Die wenigsten von uns, sind wir ehrlich, kommen doch über Bekundungen und Bedauern, Bestürzung, Posten und Teilen nicht hinaus. Sie haben, und da nehme ich mich nicht aus, keine sonstigen Bezug zu den Dingen, die geschehen. Wer von denen, die diesen Text lesen, kümmert sich denn um einen Flüchtling, spendet Sachen, informiert sich im Netz, was er in seiner Umgebung tun kann? Und wer tut eben diese Dinge jetzt, da er dieses Bild gesehen hat, vielleicht doch mal?

Cameron, so heißt es, will sich nun doch in Sachen Flüchtlingshilfe bewegen, vielleicht, weil er Angst bekommt vor diesen Bildern, oder vielleicht weil er Angst bekommt, dass noch viele solcher Bilder durchs Netzt geistern werden und denen Angst machen, die ihn dann wählen – oder eben auch nicht mehr. Vielleicht. Jedenfalls ändert sich wohl etwas – eben wegen solcher Bilder.

Ich verstehe, wenn Menschen es Pietätlos finden, ein totes Kind zu zeigen, ein Kind, das sich nicht mehr wehren kann. Ist es aber nicht genauso Pietätlos, ein solches Bild nicht zu zeigen, um dadurch vielleicht denen zu helfen, die noch leben. Denn die können sich eben auch nicht wehren. Und das tote Kind hätte sowas wie einen Sinn. Sowas wie.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert