Ein Abend bei Ro. und die Sprache des Körpers

Wir haben uns mit Ro. verabredet und obwohl ich keine Lust habe, verspricht der Abend ein guter zu werden. Ro. ist Therapeut, zumal ein guter, ist klug und schämt sich nicht seine Triebe in allen geschlechtlichen Richtungen auszuleben. Ro. beschreibt sich selbst als nicht monogam leben könnend, besucht bei Bedarf  Fetisch-Partys und macht, so scheint es mir, selbst aus derben sexuallen Handlungen eine Therapiesitzung, und wenn es seiner eigenen Therapie bedarf.

Wir, mein Freund, sein Freund und ich, lauschen gespannt seinen Geschichten, die, selbst wenn er sie schon einmal (oder zweimal) zum Besten gegeben hat, sich immer wieder neu und interessant anhören. Ich erzähle Ro. von meinen multiplen Beschwerden und verkünde dabei selbstironisch, dass ich wohl jetzt zum Hypochonder werde.

Ro. verfällt sogleich, wie ich es auch gerne mache, in eine Comedy-Figur, die noch höher spricht, als er es sowieso schon tut und haut „na, wenn sich in meiner neu bestehenden Dreierbeziehung keiner mehr so richtig um mich kümmert, dann muss ich wohl dafür sorgen, dass sich wenigstens der Arzt um mich kümmert!“ heraus. Alsdann gewinnt er seinen therapeutischen Duktus zurück und erklärt mir, dass ich genau auf das hören solle, was mein Körper mir so zu erzählen hat. Ich dachte mit diesen jahrhundertealten Verdrängungsgeschwafel der Freudschen Schule abgeschlossen zu haben. Wenn Ro. so etwas sagt, gewinnt es für mich an Tiefe und ich komme nicht umhin, ihm Recht zu geben: Schmerzen produzieren, um wenigstens ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu bekommen, und wenn es von einem Arzt ist. Da war es schon wieder: „Du bist Schuld an Deiner Krankheit!“. Früher war es wenigstens noch Gottes Strafe, heute straft uns unser kleines Kind, das untere Selbst, das Unterbewusstsein dafür, dass wir nicht auf es hören, auch wenn es, wenn überhaupt, eine recht undeutliche Sprache spricht.

Obwohl, so undeutlich ist die Sprache nicht, vielmehr neige ich – wie viele andere vermutlich auch – dazu, die meisten Dinge gleich als Träumerei, Spinnerei und nicht durchführbar abzutun. So vieles, was mich daran hindert: ich muss Leistung bringen und Geld verdienen – auch wenn das Eine oft nicht zum anderen führt, so ist es doch das Einfachste, was ich tun kann, um ruhigen Gewissens, dafür aber auch schmerzenden Rückens abends ins Bett zu fallen, um morgens das Aufstehen herauszuzögern, um dem feindlichen Tag so spät wie möglich begegnen zu müssen.

Ich erinnere mich an meine Worte, als ich im vergangenen Jahr für einen Moment glaubte, verrückt zu werden. Ein heißes Gefühl stieg in meinen Kopf, meine Gedanken schienen sich nur noch im Kreis zu drehen, so schnell, dass es mir nicht einmal mehr möglich war, sie zu erkennen. Ich bekam es mit der Angst zu tun und machte mir das erste Mal Sorgen um mich selbst. „Ich mache mir echt Sorgen um mich selbst!“, waren meine Worte. Davor hatte ich die Veränderung der Beziehung zwischen meinem Freund und mir erlebt, nahm sich ein guter Freund das Leben und erkrankte meine Schwester an Brustkreb. Das ar zu viel und ich scheine bis heute an alledem zu knabbern.

Mittlerweile hat sich vieles relativiert, meiner Schwester geht es besser, die Dreierbeziehung hat sich eingependelt und R., der sich das Leben nahm, ist nach wie vor tot. Langsam schaffe ich es, mich an den eigenen Haaren hochzuziehen, manchmal verlässt mich die Kraft und ich wünsche mir … dass sich jemand um mich kümmert.

Ro. hat vermutlich Recht, nein, er hat Recht und nach seinem kurzen, wohldosierten Einwurf wechseln wir das Thema, weil er gemerkt hat, dass die Botschaft ankam.

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