Manchmal muss man sich ein Bein rausreißen – vom Sortieren und Wegschmeißen

Ich suche. Ich suche mein halbes Leben lang, vielleicht mein Drittel, und wenn es ein Achtel – oder noch weniger – ist. Irgendwas suchen wir immer irgendwo. Hier eine Bescheinigung (ohne die natürlich gar nichts geht), ein Anschreiben, eine Kündigung, eine Aktennotiz. Alleine das Wort schon. Aktennotiz. Ich jedenfalls suche eine Anleitung, suche hier und da, und mir fällt auf, dass meine Ablagekörbe bereits übervoll sind.

Ich sortiere. Nach dem Suchen und des Gewahrwerdens, dass in dieser Unordnung wohl nichts auf die Schnelle zu finden ist, beginne ich zu sortieren. Sortieren und Ablegen ist nach dem Suchen die wohl zweithäufigste Beschäftigung im Leben eines „zivilisierten“ Menschens. Ich habe mehrere Ordner, in denen mein Leben mehr oder weniger sortiert verteilt ist: Alte Versicherungsunterlagen, Kündigungen, neue Versicherungsscheine und Nachtragsschreiben wegen Änderung der AGB´s, die ich nicht verstehe, weil ich sie nicht verstehen will. Ich denke mir , dass im Schadensfalle sowieso irgendeine AGB den Versicherungsgeber von Zahlungen entbindet. Warum also sie verstehen wollen?

Dann die Rentenversicherung. Sie schreibt mich jährlich an, um mir mitzuteilen, dass ich nun im Falle einer Verrentung (schon wieder so ein Wort) einen Anspruch von 290 Euro pro Monat habe. Außerdem wird der Anspruch, wenn ich so weitermache, im Jahre soundso, also nach meiner Verrentung 1028 Euro betragen. Falls und wenn. Diese nutzlosen, weil hypothetischen Schreiben gehen jährlich millionenen Menschen für noch mehr Millionen Euro zu, um spätestens beim Aufräumen und Sortieren in den Müll zu wandern. Vermutlich hat aber einer von diesen millionen Menschen, der so einen Bescheid gerne hätte irgendwann einmal gegen die – sinnvolle – Nichtzustellung vor dem obersten Bundes-weiß-ich-was-Gericht geklagt und Recht bekommen. So, und nun muss ich mich wegen dieses Wirrkopfes mit einer, für meine Verhältnisse, großen Papierflut rumschlagen.

Zeugnisse hebt man ja auch ganz gerne auf. Wer weiß, wer sie noch einmal sehen möchte. Und es gibt immer wieder Menschen, die sie sehen möchten, obwohl sie genau wissen, dass die wesentlichen Zeugnisse, die man so rumzeigt, gefälscht sind, nur um einen Job zu erhalten, der einem spätestetns nach dem Burnout auch wieder genommen wird. Außerdem: Wozu gibt es diese unsäglichen Assesment-Center, bei denen ein Computer oder (noch viel schlimmer) irgendein Personalreferent einem in den Kopf schaut, um dann zu erklären, dass es in den Bereichen der sozialen Kompetenz doch einigen Nachholbedarf gäbe, der ihn davon abhalten würde, einer Einstellung, bei allen anderen (natürlich) außerordentlich guten Leistungen, zuzustimmen. Also bekommt der größte Mitläufer und Arschkriecher der Runde den Job, natürlich wegen seiner hohen sozialen Kompetenz.

Weg damit. Dieser ganze alte Kram, den kein Mensch mehr braucht. Und wenn, sollte man sich überlegen, ob man mit diesem Menschen überhaupt in Kontakt treten, geschweige denn unter ihm arbeiten möchte. Und so werfe ich, immer noch auf der Suche nach der Anleitung, seit Langem mal wieder alten krimskrams weg. Bescheide vom Arbeitsamt – entschuldigung: Arbeitsagentur – müssen ebenso dran glauben wie alte Fonds-Einlagen, die den vermögenswirksamen Leistungen dienten. Meine Rentenbescheide hefte ich sorgsam nach Datum sortiert ab. Und dann kommen die Dokumente, die keinen juristischen belang haben, Bilder, Zeitungsausschnitte über den Selbsrmord eines Jugenfreundes, einige wenige noch nach Parfum riechende Liebesbekundungen und andere Sachen, die ich immer nur Anschaue, um zu überlegen, ob ich Sie weiter in meinem Leben belasse oder doch endlich mal wegwerfe. Ich entscheide mich für Ersteres.

Das Menschliche Gehirn hat bestimmte Nervenzellen, die ihrem Besitzer glaubhaft machen (sollen), dass der Arm, der an seinem Körper hängt auch tatsächlich seiner ist. Diese Propriorezeptoren funktionieren nicht nur mit unseren Extremitäten, sondern auch mit Bleistiften, die wir halten und Autos, in denen wir sitzen. Deshalb können wir mit diesen Dingen so gut umgehen. Unser Gehirn tut einfach so, als gehörten Sie zu uns. Ich vermute, mit alten Briefen und Dokumenten ist es auch so und: Wer verliert schon gerne einen Arm oder ein Bein oder eben alte Dokumente, die oftmals der einzige Beweis dafür sind, dass und wie wir gelebt haben.

Und so werfe ich ein paar wenige Dokument weg und freue mich, ein paar Extremitäten weniger zu haben, weil ich mir sicher bin, dass auch wieder welche dazukommen werden. Andere möchte ich mir noch nicht ausreißen und hefte Sie irgendwie in einen Ordner. Vermutlich mag ich mit diesen Dingen einfach noch eine Zeit hantieren, sie wenigstens noch nicht vergessen. Und so freue ich mich über das weggeworfene Material genauso wie ich mich auf die Zeit freue, in der bis jetzt vielleicht noch nicht ganz geheilte Wunden verschlossen sind und ich den Verband, der mich bis dahin schützte in Form dieser schriftlichen Beweise ebenso in die Mülltonne befördern kann.

Meine Anleitung bleibt unauffindbar.

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