Herr Doktor, der Hypochonder ist gestorben!

Schwester: „Herr Doktor, der Hypochonder von Zimmer 3 ist gestorben!“
Arzt: „Na, jetzt übertreibt er aber!“

Ich werde zum Hypochonder. Oder bin es schon?

Als Kind war Krankheit einfach nur lästig. Bestenfalls bestand sie natürlich auch nur aus einem Husten, einem verstauchten Fuß oder sonstigen Lappalien. Doch selbst Nicht-Lappalien nimmt man als Kind wohl gelassener hin, als es die Eltern gemeinhin tun. Im Alter von 5 Jahren fing ich mir eine Hirnhautentzündung ein. Damals liefen im Sommer noch keine zweistündlichen Zecken-Warnhinweise in irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Fernsehmagazinen. Meine Erinnerungen daran sind auch weniger von den Symptomen gesprägt – ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen und musste mich ständig übergeben. Vielmehr machte mir meine Mutter Sorgen, die, ihr Weinen unterdrückend, an meinem Bett saß (ich lag vielmehr im Wohnzimmer auf der Couch, um am Tagestreiben doch irgendwie teilnehmen zu können).

Der Arzt, ein Arzt, der im Krieg schon praktizierte und wenig für Drama übrighatte, sondern die Dinge nüchtern und pragmatisch anging, erkannte glücklicherweise schnell, dass eine krankenhäusliche Behandlung notwendig sei, und mein Onkel, Mitglied in der freiwilligen Feuerwehr, schnappte sich einen Einsatz-VW-Bus und donnerte mit Blaulicht ins nächstgelegene Krankenhaus.

Im Krankenhaus kam der nächste Schmerz: Eine Rückenmarkspunktion, von der ich nicht verstand, warum sie vorgenommen werden musste (vermutlich hält man es heute noch nicht für nötig, den Patienten in sein Handeln einzubeziehen) und eine schreckliche Schwester. Schwester Petra, ein Unding von Schwester, die meinen größten Schmerz bei der ganzen Hirnhautgeschichte förderte: Einsamkeit.

Wenn ich mich an etwas erinnern kann, dann an die Einsamkeit, in der ich mich befand. Ich lag in Quarantäne, hinter einer Glasscheibe, an der sich mein Bescuh die Nase plattdrücken musste. Und ich vermisste meine Schwester, die unten im Krankenhauspark warten musste. Einziger Lichtblick war ein kleines Radio und ein Lied, dass sich in meiner Seele, ja meiner Seele, eingebrannt hat, weil es so traurig war und damit perfekt zu meiner Stimmung gepasst hat: „Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree.“

Ich bemühe einmal Wikipedia, um diese unfassbar rührige Geschichte, aus der das Lied entstanden ist, hier für alle Zeiten zu dokumentieren:

Der Titel heißt übersetzt „Binde eine gelbe Schleife um die alte Eiche“, und die Handlung soll auf einer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs basieren. Demnach hat ein Soldat aus Georgia einen Brief an seine Frau geschickt, in dem er ihr mitteilte, dass sie als Zeichen ihrer Liebe zu ihm ein gelbes Taschentuch an die Eiche in der Dorfmitte binden soll. Als er in einer Kutsche nach langer Gefangenschaft wieder nach Hause zurückkehrte, sah er das Tuch an jenem Baum hängen.

Im Songtext wird ein Mann nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen und bittet seine Geliebte um eine gelbe Schleife an einer alten Eiche, damit er schon vom Bus aus sehen kann, ob sie ihn immer noch liebt, und er ansonsten gleich weiterfahren kann. Als am Ende des Songs der Bus im Heimatort ankommt, erwarten den Heimkehrer an der Eiche gleich hunderte gelber Schleifen.

Passt ja. Meine gelbe Binde hieß Tatjana. Sie ereilte ebenso eine Hirnhautentzündung und die damit verbundene Quarantäne, die wir dann für die folgenden drei Wochen gemeinsam verbrachten. Wir hatten, wiederum in meiner Erinnerung, viel Spaß miteinander. So viel Spaß, dass der Abschied (schon wieder) wehtat. nach ein oder zwei Briefwechseln verloren wir uns aus den Augen.

Todesangst war bei dieser Geschichte nie im Spiel. Bis dahin hatte ich den Tod einfach noch nicht gesehen, hatte niemanden zu beklagen, zumindest niemanden, bei dem mir der Abschied schwer gefallen wäre. Ich kannte das Wort „Hirnhautentzündung“ gar nicht und so war es mir nicht möglich, eine Verbindung zum Tod oder sonst welchen Unannehmlichkeiten herzustellen. Ich war einfach krank, einsam, gelangweilt und wollte schnellstmöglich wieder in mein normales Leben zurück. Basta.

Das war zugegebener Maßen auch meine einzige (nicht als solche wahrgenommene) Nahtoderfahrung. mein eigentlicher Hypochondrismus kam, wenn ich es so recht überlege, in meiner Pubertät. Ich erinnere mich, Bravo gelesen zu haben, hier natürlich die Doktor-Sommer-Kolumne, in der sich Jugendliche über zu kleine Penisse, zu große Brüste und sonstiges beklagten, was für mich (in beiden Fällen) nicht nachvollziehbar war. Ich hielt mich größenverhältnismäßig für normal.

Ich kann mich allerdings an einen Bericht über Geschlechtskrankheiten und hier speziell über Syphillis erinnern und glaubte mit einem Mal, an dieser erkrankt zu sein. Ich hatte zu dieser Zeit meine ersten Doktorspiele hinter mir und mir und war nun der festen Überzeugung, mir da eine Syphillis eingehandelt zu haben. Eine Syphillis!?

Internet gab es nicht, also bemühlte ich das hauslexikon, das meine Mutter zum Lösen der Kreuzworträtsel verwandte. Hier waren alle Szenarien zur Syphillis in Stadien unterteilt. Sie endete, das war für mich ausschlaggebend, mit Rückenmarkschwindsucht und Gehirnerweichung.

Ich hangelte mich durch die Wochen, bis ich mich endlich traute, meinem Arzt, den ich nicht mochte, mein Geschlechtsteil zu zeigen, um ein Lächeln von ihm zu ernten mit dem Kommentar, dass das alles ganz normal sei. Ein kleiner Schritt für die Menschheit – ein großer Schritt für mich. Bei Syphillis zucke ich heute noch zusammen. Wirklich wahr.

Später kam eine neue Krankheit dazu – aids. Der Schrecken der achtziger. Ich entdeckte gerade meine (Homo) Sexualität und hatte nun eine neue Krankheit, an der es sich zu sterben lohnte, weil schlimm und grausam und allgegenwärtig. Wenn ich es so genau überlege, werde oder bin ich kein Hypochonder. Ich war es schon immer und Sie werden grade Zeuge dieser Erkenntnis, die mir vorher – ich schwöre – nicht bewusst war. Ein Grund mehr, dem, meinem, Phänomen der Todesfurcht auf den Grund zu gehen.

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