Leben und So

„Du, der R. ist tot!“.

J. stammelt gefasst ins Telefon. Es ist jetzt ein Jahr her, dass mich dieser Satz traf. R. ist also tot. Dieser Botschaft ging die Frage voraus, ob ich sitze, mein Freund bei mir sei und so. Ich verneinte beides. Ich saß nicht und mein Freund war mit seinem Freund gerade unterwegs. Die Frage „sitzt Du?“ leitet normalerweise eher spöttische Bemerkungen ein, um den Effekt des Nachfolgenden zu erhöhen. „R. ist tot!“ gehört nicht zu der Art Mitteilungen, die man nach „Sitzt Du?“ erwartet.

Ich antwortete das, was wohl die meisten Menschen auf unerwartete Mitteilungen wie diese antworten:

„Wie?“

Ich hätte auch „was?“ fragen können, um meinem Unglauben Ausdruck zu verleihen. „Wie?“ oder „Was?“ antwortet man in diesen Situationen nur, um dem Überbringer schlechter Botschaften die Möglichkeit zu geben, diese zu revidieren, sie als Scherz oder ähnliches korrigieren zu können, auch wenn sie meistens solchen Botschaften folgen, von denen man weiß, dass nur ein richtiges Arschloch sie als Scherz verbreitete. Und J. war und ist kein Arschloch.

So eine Mitteilung lässt die Zeit verschwinden, nicht stillstehen oder langamer laufen. Sie verschwindet einfach. Jede andere Mitteilung findet im Denken irgendwo einen Anker. „R. hat Krebs!“ – da ist noch Hoffnung, noch Zukunft. Der Tod hat keine Zukunft und die Vergangenheit spielt keine Rolle mehr. R. ist einfach weg, wo soll man da noch hindenken. Nirgends. Die Zeit verschwindet. Unter anderen Umständen mag das eine schöne oder gar erwünschte Erfahrung sein. Unter diesen Umständen wünscht man sich die Zeit sehnlichst her. Irgendwann kommt sie wieder, doch dann ist es – sowieso – zu spät.

Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mich der Tod eines Menschen, zumal eines Freundes, keines Verwandten oder fernen Bekannten, derart überraschte, denn R. war nicht krank, nicht körperlich, und nichts deutete auf sein so spontanes Ableben hin.

Auf den Tod oder die Überbringung einer Todesnachricht zu reagieren ist nicht leicht, denn der Tod ist gemeinhin irreversibel. Er reißt einen bedeutenden Teil unserer Nervenaktivität plötzlich aus dem Gesamtkonstrukt Gedächtis heraus. So viele Erlebnisse waren mit R. verbunden, die nun, da R. unerwarteterweise nicht mehr Teil meines Lebens war, frei herumbaumelten. Ein sofortiges Elimieren von R. aus meinen Hirnverschaltungen war nicht möglich, wie es bei einer solchen Nachricht nie möglich ist. Das macht es so schwer. Ich gab mich sprachlos und ließ J., die mit den anderen vor R.´s Wohnung standen weiter erzählen. R.´s Mutter rief sie an, sie meinte da stimme etwas nicht, weil er sich so lange (die letzten drei Tage) nicht gemeldet habe und sie sollen dochmal nachschauen. Glücklicherweise war der Schlüssel zu R.´s Wohnung gerade in Besitz anderer, sonst hätten sie ihn gefunden, sagte J. Die Todesursache war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, also warteten sie.

Es war ein lauer Sommerabend, der irgendwie schön hätte enden können. Ich war alleine (mein Freund war ja unterwegs) und wollte gerade ins Bett gehen. Jetzt zog ich mich wieder an und fuhr auch zu R.´s Wohnung, vor der sie alle saßen. Vier oder fünf Leute, die darauf warteten, dass, ja, dass…

Dass klar wurde, was passiert war. Nach und nach kamen noch die ein oder anderen Freunde, kein Wort, was auch, nur Blicke, Tränen, Unverständnis. Dann wurde R. endlich rausgebracht, auf einer Bare, in eine Plastikplane gewickelt, üblich eben.

Der Leichenwagen fuhr weg und ich erinnerte mich an den Tod meines Vaters. Er musste sich länger quälen, als R. Er litt an Krebs, konnte erst nicht mehr sehen, dann nicht mehr gehen und war in den letzten Wochen mit seinem Abschied beschäftigt, sediert mit Morphium. Mein Mutter wachte 24 Stunden an seinem Bett, pflegte ihn tot, bis sie mich anrief und mir fast ungläubig mitteilte, dass er verstorben sei, so als musste man mit allem rechnen, nur damit nicht.

Immerhin hatten wir drei Monate Zeit, uns mit dem Tod zu arrangieren, darüber zu sprechen, zu versöhnen und auch zu lachen. Der Bestattungsunternehmer, der meinen Vater abholte, war professionell und verstand es, ohne Sprache zu sprechen. Was auch? Visitenkarte, auf wiedersehen. Sein Vater, so erzählte er uns einen Tag später, habe sich im Geschäft umgebracht – mit einer Pistole, wenn ich mich recht erinnere. Das Schlimmst war auch hier der wegfahrende Leichenwagen. Fast hätte ich vorgeschlagen, Totenwache zu halten, mit der Benachrichtigung des Bestatters einen Nacht zu warten, doch die Entscheidung lag nicht bei mir und die getroffene Entscheidung war auch gut. Der wegfahrende Leichenwagen besiegelte die Endgültigkeit. Jetzt war er weg, mein Vater, und R.

Man bleibt zurück wie ein Kind. Etwas wird einem von einem Fremden einfach weggenommen, Taxi to nowhere, naja, in die Leichenhalle, den Kühlschrank, von wo aus der Tote nochmal aufgehübscht wird, um dann endgültig (wie in beiden Fällen) ins Feuer geschoben zu werden.

Wir saßen also da und starrten auf den wegfahrenden Leichenwagen, zurückbleibende, Hinterbliebene, zwischen Unverständnis, Trauer und Wut. Später fuhren wir auch nach Hause und redeten die Nacht über R., lachten, weinten und dann waren wir alleine, jeder für sich zuhause.

Die Nacht nach einem Tod hat etwas seltsames, etwas zeitloses. Das Gehirn ist immer noch damit beschäftigt, seine Chemie neu zu ordnen, was natürlich nicht gelingt. An was sollte ich denken. Schließlich weinte ich. Zwischenzeitlich rief mein Freund an und ich erzählte ihm, was passiert war und muss immer wieder weinen. Mir fällt auf, dass ich bei meinem Vater nicht so viel und so spontan geweint habe. Warum wohl? Dazu fiel mir jetzt nichts ein.

Am nächsten Tag: Katerstimmung. Ich saß mit den anderen im Büro, wir arbeiteten an einer Veranstaltung, die in zwei Wochen stattfinden sollte (und es auch tat), eine Veranstaltung, die R. ins Leben gerufen, aufgebaut und etabliert und die A. übernommen, nachdem sich R. aus dem Geschäft zurückgezogen hatte. Burnout, wie er sagte.

In den folgenden Tagen wurde klar, dass R. einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte, in dem er ein paar Menschen, seiner Mutter, seiner Schwester und so, klare Worte mit auf den Weg gab. Ein lieber Brief. macht euch keine Sorgen, ihr könnt nichts dazu, hat er geschrieben. Die Überschrift aber haut mich um.

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