Wenn die Seele Staus meldet – von Burnout und anderen Diagnosen

Böse Zungen behaupten, dass psychische Krankheitsbilder nach den Maßgaben von Trends aus der Taufe gehoben, ja erfunden werden. Einen nicht unerheblichen Teil an deren Erfindung hat, so behaupten sie, die Pharma- und Therapeutenlobby, denn schließlich braucht es Nachschub für all die teuren Forscher und Therapiepraxen.

Von Multiplen über Beziehungsunfähigen zu Erschöpften

In den 80ern, ich erinnere mich, kamen plötzlich die multiplen Persönlichkeitsstörungen auf – Menschen, die viele Persönlichkeiten in sich tragen, die sich auf verschiedenste Weisen äußerten – ander Sprache, andere Schrift, andere Gedächtnisinhalte, eben eigenständige Persönlichkeiten.

Dann war es das Chronique-Fatigue-Syndrom, die Multiple Chemical Sensitivity (Allergie gegen Nahrungsmittel, Elektrosmog, etc.), das Fibromyalgie-Syndrom (schwere Erschöpfung nach leichter Tätigkeit) und als nächstes Großes schließlich die Borderline Störung.

Die lässt sich mit dem Begriff „Beziehungsunfähigkeit“ vage umreißen, gepaart mit teils neurotischem, teils psychotischem Verhalten, Risikofreude, Selbstzerstörung und dergleichen mehr.

Und nun also leiden wir alle an Burnout, der Überforderung, die uns morgens nicht mehr aufstehen lässt, uns jede Perspektive raubt und nur noch müde macht, ausgebrannt eben.

Skepsis macht sich breit

All diese Leiden haben eines gemeinsam: man traut ihnen nicht so recht, Amerikaner noch mehr als Europäer, kann sie unter dem Computertomographen nicht sehen (außer den üblichen über- oder unteraktivierten Gehrinregionen im Gegensatz zu den Normalverteilungen) und überhaupt weiß man nicht so recht viel mit Ihnen anzufangen, zumal die Symptomatik fluktuiert und schwer zu erfassen ist.

Doch haben sie mehr als das gemeinsam: Sie sind, zumindest scheint es mir so, ein Ausdruck unserer Gesellschaft, so etwas wie eine Statusmeldung, die sich, ansonsten belächelt und unerhört, über die Systematik  (ICD-10 und DSM IV) Gehör verschaffen, gingen sie ansonsten doch unter in dem „immer-weiter-so“ einer leistungsorientierten Gesellschaft.

Gehör verschaffen

Damit wollen sich Patienten und auch Therapeuten vielleicht einfach nicht mehr abgeben, wollen nicht in irgendeine unpassende Kategorie (Depressionen, Neurosen, Psychosen) abgeschoben werden, sondern eine differenziertere Wahrnehmung ihres Leidens, wie es in den, zwar manchmal belächelten, Diagnosekatalogen auch immer öfter Ausdruck findet.

So war und ist die multiple Persönlichkeit vielleicht Ausdruck des immer größer werdenden Drucks der Anpassung: hier hast Du so zu sein und dort hast Du anders zu sein, hier darfst Du dieses tun und dort darfst Du jenes tun.

Die Allergie gegen neuzeitliche Emissionen, sei es Strom oder Chemie in unserem Essen, mag aus dem inneren Gefühl der immer größer werdenden Denaturierung heraus entstehen und ist dabei vielleicht weniger Ausdruck unseres Körpers, als der unserer Seele, die sich des Körpers bedient, um laut zu protestieren.

Eine Borderline-Störung mag die Abrechnung mit den Zeiten sein, in denen das Individuum in all seiner Extrovertiertheit so hoch gehalten wurde, dass eine Gemeinschaft nun nur noch, weil verlernt, mit größten Mühen eingegangen werden kann. Zurück bleibt eben die Kluft zwischen dem Zwang, unbedingt individuell sein zu müssen und dem immensen (zumal dem Menschen immanenten) Bedürfnis nach Nähe.

Und schließlich das Burnout-Syndrom, zu dem sich vor allem prominente Menschen immer öfter bekennen, weil sie dem Druck der Öffentlichkeit nicht mehr standhalten, so, wie es viele andere Menschen, weitaus weniger oder gar nicht prominent, eben auch nicht mehr tun können.

Wenn die Seele Status meldet

Es wird Zeit zu erkennen, dass diese Erkrankungen eben nicht Ausdruck einer Industrielobby sind, sondern eine probate Möglichkeit darstellen, eine gesellschaftliche Statusmeldung und somit eine Befindlichkeitslage abzugeben die, weil ärztlich untermauert, eben auf diesem Wege Gehör findet.

Und dann lohnt sich in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf all die körperlichen Erkrankungen, die uns in diesen Zeiten so beschäftigen (Krebs und aids fallen mir das spontan ein), zu schauen, worum es bei diesen Erkrankungen psychosozial geht und welche Botschaft sie bereit halten.

Es muss zukünftig die Aufgabe von Psychologie und Medizin sein, eine Therapie zu entwerfen, die beides betrachtet und beides thematisiert, die Botschaft und die Symptome. Denn nur so kann nicht nur der Symptomträger, sondern nur so können wir alle begreifen, was schief läuft und was zu ändern ist.

Dann aber, und das scheint so zu sein, dann werden wir es wieder mit Lobby zu tun bekommen.

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