Wenn die Sonne nicht dort aufginge
Gäbe es die Sonne nicht, wüssten wir gar nicht, dass sich die Erde dreht. Oder, gäbe es an jeder Ecke eine Sonne, dann wüssten wir es auch nicht. Gäbe es keine Sterne, sie sich am Firmament ständig verändern – keine Chance. Es wäre immer das selbe Bild, ein ewiger Fluss. Kopernikus hätte sich die Augen ausspähen können, wir wüssten bis heute nicht, dass es ihn gegeben hätte – ohne Sonne und ohne Sterne.
Aber so wissen wir, dass wir uns drehen. Beständig. Stoisch. Ohne Ausnahme. Jeder Tag ein neuer Tag, die meisten Tage gleich. So kommt es uns vor, weil wir glauben zu wissen, was morgen kommt. Weil die Sonne morgen wieder dort aufgehen wird, wo sie gestern und heute aufgegangen ist. Und mit dem Untergehen ist es das selbe. Weil es so einfach und so viel leichter scheint, wenn jeden Tag das selbe passiert. Und dabei ist es so viel schwieriger.
In unserem tiefsten Inneren wünschen wir uns, die Sonne ginge mal nicht dort auf, wo sie es immer tut. Dann stünden wir staunend da und zeigten mit offenem Mund nach oben an die Stelle, an der sie hätte aufgehen sollen und staunend dorthin, wo sie aufginge.
Und Forscher starrten gebannt auf ihre Monitore und dann wieder in ihre großen Teleskope. Die NASA würde ihre Raumgleiter startklar machen und alle säßen gebannt vor den Fernsehgeräten, in denen den ganzen Tag und die ganze Nacht über nichts anderes berichtet würde als über den falschen Sonnenaufgang.
Wir vergäßen sogar die Problem mit unseren Ehemännern und -frauen, unsere Geldsorgen und den Streit mit unseren Chefs und Kollegen. Plötzlich geriete unser ganzes Leben aus den Fugen und vor lauter Aufregung vergäßen wir sogar unsere Angst. Wir ließen unsere Kriege ruhen und wir feierten stattdessen Feste, die ja vielleicht unsere letzten sein könnten. Wir versöhnten uns mit unseren Feinden, tanzten miteinander und wären glücklich.
Und dann, am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder an ihrem angestammten Platz erschiene, dann würden wir noch einige Tage über den „falschen“ Sonnenaufgang sprechen und Wissenschaftler grübelten noch lange über dieses Phänomen nach und sie gäben ihm einen Namen und wir würden in den darauffolgenden Jahren dem falschen Sonnenaufgang gedenken und der Fröhlichkeit, die er hervorgerufen hatte und würden dann – eher schnell als langsam – wieder unsere Gewohnheiten aufnehmen.
Wir würden uns wieder Sorgen machen, nähmen unsere Kriege wieder auf und warteten sehnsüchtig darauf, dass die Sonne mal wieder am falschen Platz aufginge.
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