Veränderung findet im Kopf statt – nicht im Parlament

Die Krise nimmt kein Ende. Von welcher Krise reden wir denn eigentlich? Die in Somalia oder die in Lampedusa, die in Libyen oder die in Syrien? Ach nein, wir haben ja selbst eine, eine Eurokrise. Stimmt, da gings um Geld. Geld, das geliehen und nie vorhanden war. Jeder Amerikaner sollte sich ja einst ein Häuschen kaufen können. The American Way of Life. So zumindest schien sie zu beginnen.

Dann merkten wir schnell, dass die Europäer ja nicht besser waren. Ob Griechenland oder Spanien oder Italien oder selbst Deutschland. Alle lebten wir über unsere Verhältnisse und tun es immer noch. Als wäre nichts geschehen, bietet die Postbank für die kleinen Freuden des Lebens wieder kleine Kredite an – schnell und unkompliziert versteht sich – um wieder ein neues Auto oder ein I-Phone oder irgend etwas anderes kaufen zu können.

Wir Deutschen rühmen uns dabei, besonders gut durch die Krise gekommen zu sein. Aufschwung, Aufschwung, Aufschwung. Kein Wunder, nein wirklich nicht, wenn wir sehen, wer dieses Wirtschaftswunder trägt. Es sind die, die nebeneinander die gleichen Tätigkeiten verrichten und einen Bruchteil des Lohns ihrer Kollegen bekommen, weil sie eben Leiharbeiter sind. Wir werden zu wahren Lohndumpern, zu Gunsten des Aufschwungs.

Zu viel Ego

Und jetzt soll wieder aufgestockt werden, von 400 Milliarden (4000 Millionen oder 4.000.000 tausend Euro) auf bestenfalls 2 Billionen. Das wäre mal ein Zeichen an die Wirtschaft und die Banken. Achja, die Banken. Stimmt, die haben uns den ganzen Salat ja erst eingebrockt. Was haben die alten Männer (und die eine alte Frau) versprochen, was sich nach der (ersten) Krise alles ändern müsste: Ein Auge müsse man auf die Banken werfen, man dürfe keine Geschäfte mehr mit Geld machen, das gar nicht da ist. Und was haben sie getan? Nichts. Zumindest nicht viel. Auf jeden Fall nicht genug.

Und wir wundern uns tatsächlich, dass wir sehenden Auges in die nächste Krise stürzen. Derweil wird diskutiert, ob man den armen Hartz IV Empfängern nun 5 oder 10 Euro mehr im Monat geben solle. Es wurden 5 oder so.

Was aber soll denn auch rauskommen, wenn unwissende Politiker, die – wenn überhaupt – einst Physik, Jura oder ähnliches studiert haben und sich nun mit einer Materie auseinandersetzen müssen, von der sie scheinbar nicht viel verstehen? Was sollen wir erwarten von Menschen, die so in ihre machtpolitischen Spielchen verstrickt sind, dass an der ersten Stelle ihrer Prioritätenliste die Verteidigung ihrer Position und ihres Egos steht. Eben. Nichts.

Wir, das Volk, werden dabei weitestgehend außen vor gelassen. Wie sollten wir auch mitreden, wir, die ja noch viel weniger verstehen. Doch was gibt es denn an dem, was derzeit passiert, nicht zu verstehen?

Ausbeutung gehört zum guten Ton

Banken wirtschaften weiterhin in die eigene Tasche (sollen sie ja auch) auf Kosten vieler Menschen, die finanziell und somit gesamtexistenziell vor die Hunde gehen (sollen sie nicht). Da wird Geld mit Geld gemacht, das nicht vorhanden ist, es wird denjenigen Geld aus der Tasche gezogen, die gar keines mehr haben und deshalb umso mehr bezahlen müssen.

Menschen hungern, weil sie weltwirtschaftlich höchst uninteressant sind. Und der Teil, der interessant ist (Ihre Rohstoffe) wird von denen, die schon genug Geld haben, aus dem Land herausgeholt, ohne wirklich etwas an die zu bezahlen, denen die Rohstoffe gehören und die wenigstens damit Geld verdienen könnten. Die Politik sieht derweil seelenruhig dabei zu, wie Höchstverdiener denen, die am Boden liegen auch noch in die Nieren treten, um anschließend ein paar Medikamentenlieferungen gegen innere Verletzungen rüberzuschicken.

Wir schmeißen Höchstverdienern Geld in den Rachen, weil diese uns mittlerweile so im Griff haben, dass sie uns mit in den Abgrund ziehen, wenn sie dort hinein fallen. Zumindest erzählen sie es uns. Zu denen, die wirklich am sterben sind, kommen wir mit einem Köfferchen mit einer Million Euro. Das war mal viel Geld. Dank der Misswirtschaft sind das heute wirklich nur noch Peanuts.

Eine Regierung zum nicht mögen

Was also gibt es da genau nicht zu verstehen? Was gibt es nicht zu verstehen, wenn es „der Wirtschaft“ gut geht, vielen Menschen, die dafür arbeiten aber nicht? Da gibt es eine ganz Menge nicht zu verstehen. Ich habe mich gefragt, wieso eine Bundesregierung, die so viel Gutes für uns tut, uns scheinbar durch eine der größten Krisen navigiert und es schafft, dass die Wirtschaft wächst und die Arbeitslosenzahlen sinken, trotzdem nicht gemocht wird.

Ganz einfach: es gibt an dieser Regierung nichts zu mögen. Fast mag man sagen, dass wir bisher nicht wegen, sondern trotz der Regierung so gut dastehen. Und das, was sie wirklich auszeichnet, sind ihre guten Beziehungen zur Wirtschaft, die nach wie vor walten und schalten darf, wie ihr beliebt, der es gutgehen darf, auch wenn es dem Rest nicht gut geht, die Gewinne machen darf, auch wenn der Rest verliert.

Die Regierenden einfach auszuwechseln, einen Steinbrück statt einer Merkel, einen Steinmeyer statt eines Westerwelles, bringt da auch nicht allzu viel. Was denn auch? Die Schweine ändern sich, die Tröge bleiben die selben. Es muss sich in unserem Denken fundamental etwas ändern. Mittlerweile dürfte doch auch der Letzte registriert haben, dass das Wirtschaftssystem, wie wir es bisher gelebt haben an seinem natürlichen Ende angelangt ist.

Jammern auf Niedrigstniveau

Wir haben uns in den letzten Jahrhunderten von allem außerhalb von uns getrennt (wir nennen es Objektivität) und damit unsere Schamgrenze, mit dem Objekt zu machen, was uns beliebt, auf ein Minimum reduziert. Wir haben uns auf das Wahrnehm- und Erklärbare reduziert und starren nur noch auf Excel-Tabellen, Facebook-Communities oder Bauer sucht Frau, lachen uns tot über die Dummheit anderer und freuen uns über unsere Erhabenheit.

Wir bemerken manchmal selbstkritisch, dass wir auf hohem Niveu jammern und merken gar nicht, wie tief unser Niveau mittlerweile gesunken ist und das wir daran gemessen den ganzen tag schreien müssten, um der Tiefe gerecht zu werden. Wir haben die Verhältnisse umgekehrt. Ein verhungernder Somalier, der jammert auf hohem Niveau, denn bei ihm geht es um nicht weniger als um sein Leben, das, nebenbei bemerkt, an einer Schüssel Reis pro Tag hängt, während wir uns an ganz anderen Dingen totessen.

Wir messen Freundschaft in Klicks und die restliche Zeit in Geld. Ein alter Mensch darf 5 Minuten Pflege bekommen, in der zeit muss er die Zuwendung für einen ganzen Tag erhalten haben und wir machen uns heute ernsthaft Gedanken darüber, wie wir der Flut der Alten in zwanzig Jahren gerecht werden können. In Geld selbstverständlich. Es ist wohl der Fähigkeit zu verdanken, alles Unangenehme verdrängen zu können, dass wir dabei übersehen, dass wir in zwanzig Jahren diejenigen sind, über deren Abschiebehaft wir heute sprechen.

Ich höre bei dieser Disksussion kein Wort (kein eines) darüber, was wir heute tun können, um das Altwerden eben nicht zu einem Problem werden zu lassen. Wie wäre es mit etwas Menschlichkeit, Zusammenhalt, Gemeinsamkeit, Miteinander oder sozialem Verhalten. Kein Wort verliert die Politik (und auch sonst keiner) darüber, wie wir diese Herausforderung anders anpacken können. Mit Geld ist sie nämlich nicht zu lösen. das sollten wir wissen.

Geld motiviert – aber falsch

Manch einer hält Geld für einen hauptsächlichen Attraktor dafür, dass in dieser Welt überhaupt etwas geschieht. Selbst spirituelle „Andersdenker“ fröhnen dem Lockstoff Geld und verheißen monetären Erfolg, wenn man ihn sich nur wünscht. Dabei wären es doch gerade die alternativen Denker, die von diesem System abrücken müssten.

In Wahrheit funktioniert das System Geld nur, weil ein ständiger Mangel impliziert wird. Erst das Gefühl dieses Mangels (und das betrifft in unserem Geldsystem 80% der Weltengemeinschaft, die nämlich tatsächlich oder gefühlt nicht genug haben) bringt die Menschen dazu, Dinge zu tun. Mangel aber ist (wie Angst auch) ein schlechter Ratgeber.

Vielmehr treibt das Geldsystem derart abstruse Blüten, dass wir doch nicht mehr ernsthaft daran glauben können; stattdessen glauben wir, dass wir das Geldproblem nach wie vor mit Geld lösen können. Das ist, als ob wir eine Wunde durch nochmaliges draufschlagen heilen wollten.

Nicht wenig Geld macht Hartz IV, sondern die mangelnde Perspektive!

Von wenig Geld zu leben, das ist nicht das Problem. Keine Perspektive zu haben, diesen Zusatnd auch wieder verlassen zu können, dass ist es, was Menschen als problematisch empfinden. Statt uns darüber Gedanken zu machen, diskutieren wir über 5 oder 10 oder meinetwegen auch über 100 Euro. Damit helfen wir keinem dieser Menschen.

Statt sie in die Gemeinschaft zu integrieren, aus der sie nie hätten ausgeschlossen werden dürfen, internieren wir Sie in Wiedereingliederungsseminaren, noch und noch, weil wir dann wenigstens sagen können, dass wir es versucht haben. Einem Menschen aber, dem über kurz oder lang die Perspektive geraubt wurde, den kann man nicht mit einem Computerführerschein aus dieser Krise befreien.

Wir träumen noch von Vollbeschäftigung, wo schon Teilbeschäftigung nur noch mit Unterbezahlung möglich ist. Andere Konzepte: Fehlanzeige. Perspektive schaffen: noch mal Fehlanzeige. Machterhalt und Wiederwahl, das ist die Perspektive aller Regierenden, da muss die derjenigen, die sie bitter nötig hätten, schon mal warten. Stattdessen werden sie als „faules Pack“ beschimpft und von Maßnahme zu Maßnahme getrieben oder angehalten für einen Euro Berliner Parks zu säubern und bekommen Kürzungen, weil Sie in dem ganzen System nicht mehr zurecht kommen.

Vielleicht ist es zu schnell geurteilt, vielleicht will die Politik ja tatsächlich die Krise bewältigen, nimmt diese Menschen ernst. Vielleicht liege ich falsch mit meinen Behauptungen. Dann aber bleibt wenigstens der Vorwurf, dass es sehr an Kommunikation mit diesen Menschen mangelt, was vergleichbar fahrlässig ist.

Währung Sozial

Wir müssen beginnen, neue Währungen einzuführen! Wie wäre es mit Zeit. Eine Pflegewährung nach japanischem Vorbild (Hurei Kippu) wäre ein guter Anfang. Jeder kann einen anderen Menschen Pflegen, für ihn einkaufen oder ihm Essen zubereiten. Dafür bekommt er Zeit gutgeschrieben, je nach Tätigkeit nach einem bestimmten Faktor berechnet. Diese Zeit kann er anschließend für sich oder auch einen anderen einsetzen, der Sie so wieder abrufen kann. Nicht nur, dass wir unabhängig von der Geldwährung wären, auch unser Gefühl für soziales Handeln würde wieder aktiviert. Wieso kommt niemand auf eine solche Idee?

Vermutlich deshalb nicht, weil es genügend Menschen (Lobbyisten) gibt, die sich im System Geld einen netten Platz geschaffen haben und nicht bereit sind, diesen aufzugeben. Vielleicht auch einfach, weil wir verlernt haben, füreinander da zu sein. Vielleicht, weil wir nie gelernt haben, wie wichtig Gemeinschaften für uns sind und weil wir gar nicht mehr spüren, wie sehr sie uns fehlen. Das spüren wir dann erst wieder, wenn wir sie brauchen, dann allerdings wird es schwer, die sorgsam angesammelten Defizite auszugleichen.

Spuren hinterlassen

Vermutlich wird so manch ein Leser dieses Blogs zustimmend nicken. Das allerdings genügt nicht. Wir müssen beginnen, selbst Verantwortung zu übernehmen, ein Leben zu leben, von dem wir glauben, dass es der Gemeinschaft und uns hilft und gut tut. Wir müssen beginnen, die Sintflut nach uns ernst zu nehmen oder besser noch: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass es zu dieser Sintflut nicht kommt.

Wir fragen uns, wie wir die Welt verändern können. Jedenfalls können wir Sie nicht mit unseren bisherigen Gedankenstrukturen ändern, denn durch sie haben wir all die Probleme erst geschaffen. Objektivität und die damit einhergehende Zusammenhangslosigkeit zwischen uns und dem ausgesperrten Objekt haben uns die Skrupel genommen bei all unserem Handeln an das gesamte zu denken, an die Umwelt und unsere Mitmenschen. Materialismus und der ungebrochene Glaube daran, dass das Einzige was zählt, satte Gewinne und Luxus sind, haben uns in die Gier und das Anhäufen oft unsinniger Dinge geführt, deren Produktion unsere gesamten Ressourcen auszufressen droht.

Wir müssen beginnen, uns neue Denkstrukturen anzueignen und dazu müssen wir erst einmal die alten entdecken. Sie sind so tief in uns verwurzelt, dass wir überhaupt nicht mehr an ihnen zweifeln können. Unser aufgeklärtes Denken hat uns in die Eindimensionalität geführt, in der nur noch gilt, was wir wahrnehmen können.

Die religiösen Geschichten über die Hölle waren sicher nicht die geeigneten Motivatoren für ein „gutes“ Leben, der Karma-Gedanke des Buddhismus`kommt dem vielleicht schon etwas näher. Die Homöopathie lehrt uns, dass in einem homöopathischen Mittel, bei dem der einst anwesende Stoff im nun verdünnten Medium zwar nicht mehr messbar, aber trotzdem vorhanden ist, also seine Spuren hinterlassen hat und dem Patienten helfen kann.

Die Quantenphysik ist gerade auf dem Weg uns plausibel zu machen, dass unser Denken und Handeln, ähnlich wie der einstige Stoff im homöopathischen Mittel, ebenso seine Spuren im Universum hinterlässt und unweigerlich wirkt. Vielleicht ist dies auf den ersten Blick nicht die Unsterblichkeit, die uns den Trost spendet, wie es die Reinkarnationslehren des Buddhismus´tun. Sie kann uns aber zu einem neuen Verantwortungsbewusstsein verhelfen, dass wir im Moment so dringend benötigen.

Mag sein, dass wir die Früchte unserer Arbeit nicht mehr erleben werden. Dass gibt uns aber nicht das Recht, sie den uns Nachfolgenden zu verwehren. Vielmehr müssen wir darauf achten, dass wir für unsere nachfolgenden Generationen die Spuren hinterlassen, von denen wir uns gewünscht hätten, sie in unserem Leben anzutreffen.

Entmündigung durch Selbermachen

Lässt Du Dich noch vor unseren Karren spannen, oder lebst Du schon? An das Geduze im IKEA-Einkaufsparadies habe ich mich ja schon gewöhnt. Den Kassiererinnen und Kassierern geht es da anders. Duze ich die nämlich, werde ich missmutig angeschaut. „Das Du,“ so heißt es, „sei doch nur in der Werbung.“ Achso! Dann darf ich wohl die HR3-Macher auch nicht duzen, obwohl sie es umgekehrt tun?! Aber gut, darum solls ja gar nicht gehen.

Nicht, dass ich ein ausgemachter IKEA-Fan wäre, aber hin und wieder steh ich eben im Möbel-Kaufland und schaue mich um. Seit einiger Zeit wird mir ja nicht nur das Einkaufen, sondern auch das Bezahlen leicht gemacht. Unter gestrenger Aufsicht eines IKEA-Mitarbeiters werde ich zu eben einem solchen, denn ich darf nun das tun, was bisher nur ausgebildeten Menschen vorenthalten war: Ich darf kassieren. Jawoll. Also stehe ich da, freue mich (noch), dass es schneller geht, lasse die Seitenblicke des IKEAners über mich ergehen und scanne brav all meine Produkte ein, die jetzt vermutlich noch einen Deut teurer sind, weil IKEA genau berechnet hat, wie viel Artikel an dieser Kasse mal eben nicht eingescannt werden.

Und doch fehlt mir irgendwie das freundliche Lächeln der Kassierer, wenn es das denn je gab, und das an dieser Kasse durch den argwöhnischen, in Hilfsbereitschaft gekleideten Blick der Aufseher gewichen ist.

Ortswechsel, Ebay. Das ein oder andere verkaufe ich hier, teils auch in eigenem Shop. Das gefällt den Kunden, das gefällt mir und das sollte Ebay auch gefallen. Tut es aber nicht. Das sagt Ebay natürlich nicht so offen. Vielmehr wird es in oberflächlich gesehen nette E-Mails verpackt: „Hey, wir wollen doch unsere Kunden nicht enttäuschen und wir wollen immer besser werden. Und deshalb wollen wir dir anbieten, mit uns besser zu werden, in dem du Deine Lieferzeiten noch etwas verkürzt, Deine Versandkosten weglässt und Deine Bilder riesengroß machst, sodass auch noch jeder kleine Fitzel des Buches, das Du verkaufen möchtest, gesehen werden kann. Und, hey, wenn Du das nicht tust, dann bist Du leider kein Premiumverkäufer mehr. Also, wir haben Dir vielmehr dieses Status schon mal aberkannt, weil da fehlen auch ein paar Cent zu dem von uns festgelegten Mindestabsatz. Wie Du diese paar Cent aber wieder gewinnen kannst, das verraten wir dir in einem Webinar, an dem Du kostenlos teilnehmen kannst, ääähhhh sollst, ääähhh musst!“

„Fick Dich, Ebay!“ Will ich da rufen. „Du hast mit mir einen wirklich guten Umsatz, und wenn meinen Kunden meine Geschäftspolitik nicht gefällt, dann sagen die mir das. Das mag bei euch Amiköppen nicht funktionieren, weil ihr einfach auch nur hohl seid, aber bei uns Europäern funktioniert das recht gut!“ Ebay interessiert’s nicht und es lächelt amerikanisch gekonnt zurück, schickt mir also weiter enervierende E-Mails mit tollen Bildern, Anleitungen und Webinarangeboten. Killing with a smile. Ob die das im Irak genauso gemacht haben? Vermutlich.

Also weiter zu Youtube. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Einfach ein gutes Video drehen, einstellen und monetarisieren. Doch, Moment mal. Ist das überhaupt mein Video? Darf ich das verwenden? Berechtigte Frage, denn wenn nicht, dann wird schon irgendein Abmahnanwalt auf mich zukommen und mir freundlich aber bestimmt mitteilen, dass er Geld von mir möchte. Freundlicherweise aber übernimmt Youtube das und fragt – natürlich – freundlich nach, ob ich denn auch der Rechteinhaber dieses Videos bin. Bin ich, vertraglich festgelegt sogar. Aber das muss Youtube ja nicht interessieren. Schreibe ich also, dass es da einen Vertrag gibt und Youtube interessiert‘ s aber eben doch. Schreibt Youtube zurück, finden sie alles Klasse, aber aus meinen Angaben, sorry, da könne man ja nun nix Gescheites deuten. Immerhin, zwei Wochen Zeit habe ich die Hosen runter zu lassen und Youtube Veträge zukommen zu lassen, die belegen, dass ich nicht lüge.

„Fick Dich, Youtube!“ rufe ich laut raus. Wobei Youtube hier sogar einen Namen hat. Mari heißt die gute und ich vermute, dass Mari in Wirklichkeit George Watson oder so heißt, Jurist ist, und den Text dazu verfasst hat. Aber so sind sie die Amis. Mari hört sich nett an und macht selbst mit ner Pumpgun (im Irak?) in der Hand noch einen sweeten Eindruck.

Was ja einst so vielversprechend begann – sei kreativ und verdiene dein Geld damit – mausert sich eher schnell als langsam zu einem streng hierarchischen Abhängigkeitsverhältnis, wie wir es ja schon seit langem aus den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen kennen. Ich für meinen Teil plane jedenfalls den Rückzug aus dieser ganzen Tyrannei, habe keine Lust mehr, mir vom finnischen oder amerikanischen Bruder erklären zu lassen, wie ich mein Geschäft zu führen oder zu bezahlen habe.

Mag sein, dass die eigene Webseite weniger Umsatz bringt als der „Millionenmarkt“ Youtube, Ebay & Co, mag sein, dass der lokale Händler etwas teurer ist, als der schwedische Möbelbauer, aber dafür lassen sie mir meine Würde und behandeln mich einfach wie einen Menschen. Wenn das der Preis für ein kleines Stückchen Freiheit ist: „drei, zwei, eins – MEINS!“

Vita brevis – und wir warten

Und Seneca sprach in seiner Schrift „de brevitate vitae“ („Über die Kürze des Lebens„):

Der größere Teil der sterblichen Menschen, Paulinus, beklagt sich über die Mißgunst der Natur, dass wir nur für eine kurze Lebenszeit geboren werden, und dass so schnell und stürmisch die uns gegebene Lebensfrist abläuft, und zwar so, dass mit Ausnahme weniger das Leben die übrigen bereits bei der Vorbereitung des Lebens im Stich lässt. Und über dieses allgemeine Übel, wie man meint, seufzt nicht nur die große Masse und der unwissende Pöbel.

Ja, so sei es, kurz das Leben und manchmal so gar zu kurz, um die lästigen Vorbereitungen auf dasselbe vorzunehmen, um dann das tun zu können, was wir gemeinhin als Leben bezeichnen und in Wirklichkeit dann auch schon wieder der Abschied ist – wir nennen das dann Midlife-Chrisis. Dazwischen – vielleicht – öffnet sich ein kleines Zeitfenster, eben zwischen Vorbereitung und Verabschiedung, in dem wir das Leben genießen können. Wenn nichts dazwischen kommt. Wenn!

Das Leben ist also kurz, soviel wollen wir festhalten, und selbst diese Kürze wissen wir mit nichts besserem auszufüllen, als der Angst vor dem dann doch bevorstehenden Ende. Diese Angst versteckt sich hinter hektischem Treiben, wechselnden Partnern und auch Arbeitsstellen oder Arbeitnehmern, den verzweifelten Versuchen, schnell etwas aufzubauen, um dann schnell das Leben noch genießen zu können und dann eben doch viel zu schnell auch wieder abzutreten.

Kinder werden gezeugt, Unternehmen gegründet, Bücher geschrieben, nur, um der Nachwelt etwas von uns zu hinterlassen. Die weiß es allerdings in den meisten Fällen erst nach unserem Ableben zu schätzen. So wurden die meisten Künstler erst nach ihrem Ableben reich und füllen wenigstens posthum die Kassen von Auktionshäusern und Kunstagenten.

Der größte Teil von uns allerdings zieht verrückter Weise eine ganz andere Taktik vor: Er wartet und erwartet. Und so warten wir auf den großen Erfolg (und lassen uns dabei von den Bohlens dieser Welt gerne auch mal diskreditieren, das große Erbe, den Durchbruch, die Glückssträhne, den Traumprinzen, die Traumprinzessin, die Steuersenkung, das Urlaubsgeld und vor allem warten wir auf die Rente.

Es war und ist mit bis heute nicht begreiflich, wie man auf so etwas wie die Rente warten kann, beseelt von der Hoffnung (oder gar dem Wissen), dass danach alles besser würde. Mit 70 also wird alles besser. Der Rente wegen. Soso, danke Herr Blüm, für diesen Floh, den Sie uns wider besseren Wissens ins Ohr gesetzt haben!

Die Erwartung an das, auf das wir warten, ist so hoch, dass sich das Warten zwar (ideell gesehen) lohnt, realistisch allerdings wissen wir, dass wir mit unseren Erwartungen doch schon die Niete gezogen haben. Wir tun es trotzdem und Freud nannte das „Bedürfnisbefriedigung durch Planung“, oder so ähnlich.

„Vita Brevis“, und irgendwann auch „Vita vorbei“ und dann, spätestens dann, haben wir den Salat und wir bemerken, das wir, wenn wir nicht die Blinde-Aktionismus-und-koste-es-was-es-wolle-und-pfeif-vor-allem-auch-auf-die-anderen-Schiene gefahren sind, wir einfach nur auf das bessere Leben gewartet und vor allem das bessere Leben erwartet haben.

Ganz am Ende haben wir nur auf den Tod gewartet und die Zeit dorthin eben mit allerlei schnieken Erwartungen gefüllt – und ein bisschen gehofft, die Erwartungen mögen sich wenigsten teilweise erfüllen.

Achja, Hoffnung: Die stirbt ja bekanntlich zum Schluss – aber sie stirbt. Spätestens mit uns.

Ich schäme mich

Ja, ich schäme mich und mir fällt auf, dass sich in Zeit größter Unmoral die Gründe, sich zu schämen, mehren. Und je größer der moralische Verstoß auf der einen Seite, desto profaner die Gründe auf der anderen. Das liegt wohl daran, dass es immer irgendeinen Ausgleich geben muss, und da die großen Themen, derer man sich schämen sollte, immer schamloser werden, suchen wir eben in den Krümeln nach Dingen, die uns die Röte ins Gesicht treiben.

Ich liebe Dennis Scheck, seine Sendungen, seine Eloquenz Leichtigkeit, mit der er einem zu verstehen gibt, dass er der große Versteher ist und uns aus Leidenschaft an seinem Intellekt teilhaben lässt. Die Bücher aber, die er in seiner Druckfrisch-Sendung so vorstellt, die sind wohl nichts für meinen schwachen Geist. Trotzdem, ich wollte es versuchen und scheiterte grandios.

Martin Mosebach sollte es sein, mit dem ich mich messen lassen wollte an meinem Dennis. „Was bisher geschah“ heißt der Roman, in der Martin Mosebach also seinen Protagonisten erzählen lässt, was eben bisher geschah – bevor der seine Freundin kennenlernte. Das tut er dann auch, vermutlich in literarischer Großkunst. Mich hat es einfach nur gelangweilt, wie er präzise über Seiten hinweg das Tschilpen einer Nachtigall beschreibt, um dann von langweiligen Partys in Kronberg zu erzählen.

Es ist unfair, weil ich weiter einfach nicht kam und nun trotzdem Mosebachs Werk als unfassbar langweilig kritisiere, weil mir am Ende einfach das Verständnis für wahrhaft großes Literatur fehlt. Ich schäme mich!

Ein weiterer Versuch, dachte ich, schadet nicht, mein kulturelles Ego aufzupolieren. Diesmal sollte es einer der seltenen Filme von Terrence Malick werden, der mich retten sollte. Brad Pitt in einem Film – das kann so schlecht nicht sein, dachte ich. Eine halbe Stunde wabriges Kino, in der eine Geschichte erzählt wurde, gefolgt von einer weiteren halben Stunde großer Musik, die Naturschauspiele untermalte, Eruptionen, Vulkanausbrüche, Wassergewalten und Zusammenbrüche ganzer Galaxien. Dazwischen flüsterte eine Stimme seltsame Worte. Und schließlich eine Stunde Geschichte. Am Ende war ich (glücklicherweise nicht als einziger) ratlos. Der Sinn des Lebens hätte sich mir in diesem Meisterwerk offenbaren sollen, tat es aber nicht. Ich schäme mich!

Und so schäme ich mich vor blauen Bildern, deren Untertitel („Blaues Bild“) nicht mehr verrät, als ich eh schon sehe. Alle um mich herum scheinen ein blaues Bild zu verstehen. Ich nicht. Ja, ich schäme mich dafür, auch dafür, dass ich Hirsche unterm Blitzschlag (oder heißt es umgekehrt) nicht verstehe, fettige Badewannen und bunte Striche auf Leinwand.

Und was mache ich stattdessen? Ich kaufe Lack-Tische (so heißt der Angebotstisch bei IKEA, hergestellt in Polen) für 7,99, dazu ein EXPEDIT für 29,99. Ich amüsiere mich über Filme, in denen es eine Handlung gibt und der Regisseur auch noch freundlich genug ist, mir diese zu verraten – er lässt seine Schauspieler einfach genug Text sprechen und zeigt in klaren Bildern, was er sich so gedacht hat. Ich lese Bücher, in denen es eine Handlung, zudem eine gute, gibt.

Ja, ich sollte mich tatsächlich schämen, derart kulturlos daherzukommen, aber zum Millionenbetrug und Geschachere mit den Großen dieses Landes reicht es einfach nicht; dazu, viel Geld auf bankrotte Statten zu wetten, um dann bei einem Gläschen Sekt mit der Kanzlerin über noch mehr Geld zu sprechen, irgendwie auch nicht.

Aber dafür muss man sich ja heutzutage auch nicht mehr schämen. Im Gegenteil, das ist Teil der Abmachung, Teil des marktwirtschaftlichen Gebahrens und dumm ist nur, wer die Gesetzeslücken (die nicht mal welche sind) nicht nutzt. Also bleibts dabei, ab und zu mal was Kulturelles zu unternehmen, das ich nicht verstehe – um mich dann wenigstesn dafür zu schämen, während andere sich vor das blaue Bild, den Hirsch unterm Blitzschlag und die fettigen Badewannen stellen, des Abends Martin Mosebach lesen oder den Baum des Lebens anschauen, um dann verklärt mit dem Kopf zu nicken, um den Ihren zu bedeuten, dass Sie gerade Zeuge ganz großer Kunst geworden sind, obwohl Sie gedanklich schon wieder beim nächsten Geschäft sind. Dafür allerdings schämen sie sich dann auch nicht.

Ich aber irgendwie schon. Und dafür schäme ich mich dann auch.

PS: Um ein Missverständnis zu vermeiden: Martin Modebach, Terrence Malick, Beuys und andere Künstler sind groß und machen ebenso große Kunst – ich verstehs halt trotzdem nicht. Dazu allerdings kann der Künstler nun wirklich nichts. Und Dennis Scheck ist für mich der angenehmste Buchkritiker dieser Zeit, auch wenn ich seine Buchvorstellungen nicht sonderlich nützlich finde. Und dafür schäme ich mich ausnahmsweise mal nicht.

Wenn die Sonne nicht dort aufginge

Gäbe es die Sonne nicht, wüssten wir gar nicht, dass sich die Erde dreht. Oder, gäbe es an jeder Ecke eine Sonne, dann wüssten wir es auch nicht. Gäbe es keine Sterne, sie sich am Firmament ständig verändern – keine Chance. Es wäre immer das selbe Bild, ein ewiger Fluss. Kopernikus hätte sich die Augen ausspähen können, wir wüssten bis heute nicht, dass es ihn gegeben hätte – ohne Sonne und ohne Sterne.

Aber so wissen wir, dass wir uns drehen. Beständig. Stoisch. Ohne Ausnahme. Jeder Tag ein neuer Tag, die meisten Tage gleich. So kommt es uns vor, weil wir glauben zu wissen, was morgen kommt. Weil die Sonne morgen wieder dort aufgehen wird, wo sie gestern und heute aufgegangen ist. Und mit dem Untergehen ist es das selbe. Weil es so einfach und so viel leichter scheint, wenn jeden Tag das selbe passiert. Und dabei ist es so viel schwieriger.

In unserem tiefsten Inneren wünschen wir uns, die Sonne ginge mal nicht dort auf, wo sie es immer tut. Dann stünden wir staunend da und zeigten mit offenem Mund nach oben an die Stelle, an der sie hätte aufgehen sollen und staunend dorthin, wo sie aufginge.

Und Forscher starrten gebannt auf ihre Monitore und dann wieder in ihre großen Teleskope. Die NASA würde ihre Raumgleiter startklar machen und alle säßen gebannt vor den Fernsehgeräten, in denen den ganzen Tag und die ganze Nacht über nichts anderes berichtet würde als über den falschen Sonnenaufgang.

Wir vergäßen sogar die Problem mit unseren Ehemännern und -frauen, unsere Geldsorgen und den Streit mit unseren Chefs und Kollegen. Plötzlich geriete unser ganzes Leben aus den Fugen und vor lauter Aufregung vergäßen wir sogar unsere Angst. Wir ließen unsere Kriege ruhen und wir feierten stattdessen Feste, die ja vielleicht unsere letzten sein könnten. Wir versöhnten uns mit unseren Feinden, tanzten miteinander und wären glücklich.

Und dann, am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder an ihrem angestammten Platz erschiene, dann würden wir noch einige Tage über den „falschen“ Sonnenaufgang sprechen und Wissenschaftler grübelten noch lange über dieses Phänomen nach und sie gäben ihm einen Namen und wir würden in den darauffolgenden Jahren dem falschen Sonnenaufgang gedenken und der Fröhlichkeit, die er hervorgerufen hatte und würden dann – eher schnell als langsam – wieder unsere Gewohnheiten aufnehmen.

Wir würden uns wieder Sorgen machen, nähmen unsere Kriege wieder auf und warteten sehnsüchtig darauf, dass die Sonne mal wieder am falschen Platz aufginge.

Zu schnell vorbei

„Heute ist der Tag, von dem wir später reden“, singt Clueso. „Zu schnell vorbei„, sinniert er. Ja, zu schnell vorbei, das bringt es wohl auf den Punkt. Zu schnell vorbei sind die Dinge, die uns am Leben halten und letzten Endes auch das Leben selbst. Nun, dessen sind wir uns selten bewusst, was uns das Leben manchmal leicht macht, manchmal auch schwer, nämlich dann, wenn es vorbei ist und wir traurig und wütend und hilflos sind, wenn es vorbei ist. In diesen Momenten wünsche ich mir, ich hätte beizeiten daran gedacht, dass es zu schnell vorbei ist.

Ich erinnere mich an meinen Vater, vor seinem Tod, als ihm auffiel, dass er die Dinge, die er plötzlich nicht mehr tun konnte, ein letztes Mal tat, nur kurze Zeit zuvor.

„Zu schnell vorbei“, hätte er sagen können, hat er auch und hat auch nichts mehr genutzt. Blieb nur noch, die letzten Dinge, die er noch tun konnte, auch zu tun, bis er wieder sagen musste: „zu schnell vorbei“.

Warum ist es so, dass wir immer dann merken, dass die Dinge zu schnell vorbei sind, wenn sie vorbei sind?

Japan, tausende Tote, Leidende, Verstrahlte – zu schnell vorbei. Die Medien sind gnadenlos, wenn es um den Kampf um Leser geht.

Libyen begann nach Tunesien und Ägypten ebenfalls mit seiner Revolution. Das war revolutionär. Jetzt ist es nur noch ein Krieg, in den, wie man heute weiß, Amerika schon seit längerem involviert gewesen ist. Zu schnell vorbei – das Wunder der Revolution. Erstaunlich wie schnell die Regierenden es schaffen, die Welt und ihre Bewohner zu entzaubern.

Und irgendwann werden wohl die meisten Menschen, gleich wie Ihr Leben verlaufen ist, „zu schnell vorbei!“ als letzten Ruf in die Welt setzen. Zu viel an Dingen aufgerieben, die in den Momenten, in denen etwas zu schnell vorbeigegangen ist, genauso unwichtig werden, wie sie zum Zeitpunkt des Geschehens wichtig waren.

Zu schnell vorbei sind sie, die schönen und die schrecklichen Momente, denn im nachhinein waren sie alle wichtig und richtig und gut.

Allenfalls die verstrichenen Momente sind es, die nicht schnell genug vorbei gehen können und die doch nur deshalb entstehen weil wir, statt das Leben zu genießen, nach hinten schauen und wehmütig ausrufen: „zu schnell vorbei!“

Wie Krankheiten uns heilen können?!

M. ist vielleicht nicht das, was man den „besten Freund“ nennen kann. Trotzdem ist unsere Freundschaft durch einen regelmäßigen Kontakt geprägt. Der letzte Kontakt lief nicht ganz wie erwartet.

M. druckste herum, verlor sich in Gemeinplätzen, bis er endlich mit der Spache herausrückte: Er sei seit einigen Monaten hiv-positiv-getestet und das wollte er mir schon lange erzählen, hat es sich aber nicht getraut. Auch könnte er verstehen, wenn sich unser Kontakt nun nicht weiter so halten ließe, hatte er mich doch als Freund sozusagen verprellt und schließlich sei er ja nun auch hiv-positiv. Warten.

Mein Entsetzen galt nicht seinem positiven hiv-Test und auch nicht der Tatsache, dass er lange nicht darüber gesprochen hatte. Ich war entsetzt darüber, dass ein Mensch gar nicht so sehr vor der Erkrankung und ihren Folgen Angst zu haben schien, sondern vielmehr vor den sozialen Folgen eines solchen Ergebnisses. Als ich ihm das mitteilte: Erleichterung, fast in Tränen aufgelöst, sicherlich hoffend, dass es so kommen würde, doch trotzdem misstrauend und die „Ohrfeige“ abwartend, ob seiner Erkrankung.

Eine Krankheit hat immer auch eine gesellschaftliche Geschichte

Mir wurde klar, dass es bei den großen, oft als schwer- oder gar unheilbar angesehenen Erkrankungen um weitaus mehr geht als um den Umstand, dass man sich nun körperlich und therapeutisch auf eine neue Zeit einzustellen hat. Die gesellschaftliche Komponente einer Krankheit Aids, wie jede andere Krankheit, hat eine lange Vorgeschichte, die eine Geschichte der politischen Lage bezüglich der Erforschung und Heilung von Krankheiten und dem Staat als oberste Instanz zur Bewältigung dieser Aufgaben ist, genauso wie sie eine Geschichte der gesellschaftlichen Meinung zu bestimmten Themen beinhaltet.

Geschichten sind dazu bestimmt, irgendwann ein Ende zu haben, egal wie es aussieht. In der Zauberei nennt man dies „Prestigio“: Ein Gegenstand darf nicht nur einfach verschwinden, er muss auch wieder erscheinen und somit die Geschichte zu Ende führen.

Das Prestigio von aids ließ lange auf sich warten und ihm vorangestellt war das nicht abzusehende Ende der Erforschung von Krebs. Nach jahrelangen Bemühungen, Viren als Ursache von Krebs zu beweisen, musste man sich eingestehen, dass die Dinge nicht so klar waren, wie zu Beginn vermutet. Auf einer gesellschaftlichen Ebene sah man sich mit der Anerkennung der Homosexuellen konfrontiert, die gerade mal etwas mehr als 10 Jahre andauerte. 1969 demonstrierten Schwule erstmals für Ihre Rechte und ihre Anerkennung. Mit Erfolg. Homosexualität wurde Stück für Stück aus der Ecke der Illegalität herausgebracht, zumindest auf der gesetzlichen Ebene. Bis dato wurden Schwule auf ihre, zumeist wilde Sexualität reduziert. Dass die Gesellschaft sie überhaupt erst in diese „Schmuddelecke“ verbannt hatte, war und ist bis heute nicht relevant.

Aids als unterschwellige Fortführung der gesellschaftlichen Vorurteile

Nun mag man sagen, dass aids es ermöglichte, Homosexualität erneut zu verurteilen, schließlich bekam aids den anfänglichen Namen Grid („Gay relatet Immune Deficiency“, also mit Schwulen in Verbindung stehende Immunschwäche) und war somit nicht nur ein Argument gegen Homosexualität und der damit verbundenen Annahme, alle Schwule hätten nur eines und das ständig im Kopf: Sex. Überhaupt konnte die Diskussion um die menschliche Sexualität erneut entfacht werden und diesmal schienen die Gegner einer freizügigen Sexualität die besseren Argumente in Händen zu halten.

Solche Absprachen finden freilich nicht bewusst per Telefon oder auf der Straße statt. Es sind Geschichten in den Köpfen der Menschen, die schwer umzuändern sind. Bekommen diese Geschichten nun ein allgemein als plausibel anerkanntes Ende, ist nicht mehr wichtig, ob dieses Ende nun wahr oder erfunden ist. Hauptsache, es passt. Die Geschichte von aids ist einfach zu verstehen: wer Sex macht, zumal in einer derart unzüchtigen Weise, wie es Schwule tun, der wird bestraft. So zumindest das europäische Bild.

Das Afrikanische Bild von aids erhält da schon mehr Mitleid, sterben die Menschen dort ja schon seit vielen Jahren an Hunger und Malaria. Aids gibt einen Grund mehr, mitleidig in das Armenhaus der Welt zu blicken. In Thailand wiederum macht aids auf die Prostitution aufmerksam und als natürliche Folge, für die der Thailänder oder die Thailänderin an sich nichts kann, sondern die durch die westlichen Männer verursacht und gefördert wird. Homosexualität spielt in diesen Ländern in Bezug auf aids eine untergeordnete Rolle. Sex allemal.

Schließlich hat uns eine Deutsche Adlige ja bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der „Schwarze an sich gerne mal schnackselt.“ Man könnte über derartige Aussagen schmunzeln, wären sie nicht ernst gemeint.

Vorurteile wissenschaftlich bestätigen

„Glück“ hat, wer aids auf unverdächtigem Wege bekommen hat: Bluter, Operierte, die eine Bluttransfusion bekommen haben, Menschen, die wider Ihres Wissens sexuellen Kontakt mit einem Infizierten hatten. Doch diese Menschen bilden die Minderheit und werden fürsorglich aus der allgemeinen Beurteilung herausgenommen. Der infizierte schwule Mann muss sich jedoch nach wie vor mit all den Ressentiments herumschlagen, die mit einer solchen Diagnose verbunden sind und darüber hinaus untermauert werden: „Du bist schuld, denn Du hast ungeschützten (und verwerflichen) Sex gehabt und dich angesteckt.“ Das mag sich übertrieben anhören, die Realität, zumindest meine, sieht in vielen Fällen jedoch so aus.

Auch werden Ressentiments nicht offen geäußert. Warum auch? Schließlich ist ja die Strafe erfolgt und nun kann man in aller Ruhe Mitleid und Betroffenheit über den Infizierten ausschütten, für den Rest sorgt die Krankheit ohnehin. Perfide!

Sehr deutlich wird dies in den immer noch hie und da veröffentlichen Äußerungen von Anhängern der Kirchen. Auch hier gilt, ob offen geäußert oder nur gedacht, aids als die gerechte Strafe oder zumindest als der Beweis dafür, dass Homosexualität nicht so ganz in Ordnung sein könne. Und Sex im Übrigen auch nicht. Das ebenjene Organisation sich systematisch (wenn auch „nur“ eine Minderheit) an Kindern vergreift, wiegt in diesem Falle nicht. Bei der Annahme von Vorurteilen wollen wir das alles mal nicht so eng sehen, oder: in der Scheinheiligkeit werden viele Menschen sich auch wieder einig.

Krankheit als Projektionsfläche der Gesellschaft

Aids also als Projektionsfläche der Gesellschaft, die Sex nach wie vor mit Scham und teilweisen Abscheu betrachtet und nach der Legalisierung der Homosexualität nun doch noch einen Weg gefunden hat, diese zu verurteilen, diesmal sogar mit wissenschaftlichen Argumenten? Diese Frage muss und kann sich vor allem jeder selbst beantworten, der es schafft, wenigsten bis zum Tellerrand zu denken, besser noch darüber hinaus.

In dem Maße, in dem wir aids und jeder anderen Erkrankung nicht nur die Geschichte aufdrängen, die ihre körperliche Heilung betrifft, sondern vor allem unsere ureigensten Ängste, Befürchtungen, Hoffnungen und auch Ablehnungen, in diesem Maße machen wir aus einer Krankheit immer auch ein gesellschaftliches Thema.

Und in dem Maße, in dem das gesellschaftliche Bild einer Erkrankung vor allem die negativen Aspekte, eben unsere Vorurteile, Ablehnung und Ängste beleuchtet, in dem Maße machen wir die Erkrankten zu einer Veräußerung unserer eigenen Ängste.

In dem Maße, in dem das jedoch passiert, verhindern wir nicht nur die Heilung der Betroffenen, sondern – und das ist vielleicht noch viel wichtiger – unser eigene Heilung.

Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit

Was waren das für Zeiten, in denen Wahrheit noch wenigstens ein bisschen Wahrheitsgehalt in sich trug. Zeiten, in denen der liebe Gott genauso wahr war, wie die Diagnose des Arztes, in denen Vitamin C noch gesund war und Fleisch unerlässlich. Zeiten , in denen die Ehe die einzig wahre Institution, zumal vor dem wahren lieben Gott, war und überhaupt niemand so richtig an der Wahrheit gezweifelt hat, ja, nicht zweifeln konnte, denn schließlich hatte er kein 1×20 cm großes Eingabefenster, in das er Stichworte eingeben und dann zigmillionen Einträge finden konnte, die ihm unter Umständen aufzeigten, dass es mit dem Wahrheitsgehalt des entsprechenden Suchbegriffes nicht ganz so viel auf sich hatte.

Wahrheit ist seit den vielen Versprechen von Mitgliedern aus Wirtschaft und Politik ein erstaunlicherweise immer noch oft bemühtes aber am Ende ein seltsames Wort geworden.

Wissenschaftler, die Sucher (und Finder ) der Wahrheit, finden manchmal je nach Sponsor oder versprochener Publikation und damit zuteil werdender Ehre mal die eine und mal die andere Wahrheit. Und selbst wenn diese Wahrheit im Augenblick richtig sein sollte, so werden im nächsten Moment von ebenso eifrigen Wissenschaftlern andere Wahrheiten gefunden.

Wahrheiten dienen heute längst nicht mehr nur der Wahrheitsfindung, sondern eher doch der Festigung unserer Meinung, und je nach dem, welcher Gruppierung wir angehören, wird mal diese und mal jene Studie aus dem Hut gezaubert, gibt es dies oder auch jenes Gutachten.

Am Ende siegt, wer die besseren Beziehungen hat oder das meiste Geld. Das war wohl auch entscheidend für das Kippen der Hamburger Schulreform, die eben von vermögenden Reformgegnern angezettelt und bezahlt wurde, die ihre Zöglinge nicht mit dem „doofen Mob“ der anderen vermischt sehen wollten.

Nun, und auch das sei gesagt, gab es solche Vorgehensweisen allerdings auch schon immer. Seit der Mensch einigermaßen gut denken kann (und seitdem vermutlich zu selbigem einfach auch nicht mehr zu gebrauchen ist), spinnt er seine Netze und Netzwerke, vertritt seine Ansichten, formuliert sie als Wahrheiten und hofft, dass die anderen sie glauben.

Ob das allerdings alles wirklich so wahr ist, dafür würde ich mich nun angesichts dieser Worte auch nicht mehr wirklich verbürgen wollen.

Die Wahrheit ist eben eine Tochter der Zeit.

In der Mitte des Lebens

Wechseljahre, Midlife-Crisis oder einfach das Leben?

Wechseljahre/Midlife-Crisis des Mannes

Der Begriff „Wechseljahre“ wurde lange Zeit nur für den körperlichen und geistigen Wandel der Frau verwendet und bezeichnet, ähnlich wie die Pubertät, die Jahre, in denen hormonelle Veränderungen zu körperlichen und damit einhergehend auch psychischen Beschwerden bewirken.
Der Mann macht noch nicht allzu lange Gebrauch von diesem Phänomen, gleichwohl ist er vom Älterwerden und Veränderungen im Alter auch betroffen. Man spricht mittlerweile auch hier von Wechseljahren.

Das Thema bekommt damit eine fast etwas pathozentrische, also auf Krankheit fixierte Sichtweise, die wohl eher dem Jugendfetisch unserer Zeit geschuldet ist, als einem tatsächlich bestehenden Heilungsbedarf eher natürlicher Erscheinungen.

Lassen Sie mich zu Anfang also sagen, das Älterwerden bei allen Menschen zu Veränderungen führt, die zum Einen auf der körperlichen Ebene stattfinden und somit auch direkt auf der psychischen Ebene Ausdruck finden. Die Frage nach dem Huhn und dem Ei (was war zuerst da?) darf allerdings auch getrost gestellt werden. Die Wechseljahre auf eine rein körperliche Ursache zu reduzieren rückt, so viel sei schon gesagt, dieses Phänomen in den Status der Unbeeinflussbarkeit und es bleibt nur, sich damit abzufinden.

Das ist nicht so!

Wir wissen heute, dass Körper und Geist enger miteinander verbunden sind, als wir das bisher glaubten und beide sich gegenseitig beeinflussen.

Körperliche Veränderungen

Bei der Durchsicht der körperlichen Veränderungen steht die Verminderte Produktion von Androgenen im Vordergrund. Das sind Sexualhormone, die für die Entwicklung und Erhaltung der männlichen Merkmale im Körper verantwortlich sind. Das bekannteste ist das Testosteron. Es ist sowohl im weiblichen als auch im männlichen Körper vorhanden, unterscheidet sich allerdings in Konzentration und Wirkung beim jeweiligen Geschlecht.

Es wirkt an verschiedenen Organen durch das Schlüssel-Schloss-Prinzip (Hormon-Rezeptor) und bewirkt unter anderem die Reifung der Spermatiden zu Spermien, die Entwicklung des Penis, Hodensacks, der akzessorischen Geschlechtsdrüsen und der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Pubertät und sorgt für die Aufrechterhaltung dieser Merkmale bei Erwachsenen.

Außerhalb der Geschlechtsorgane fördert es das Wachstum der Körperbehaarung und der Barthaare, besitzt eine muskelaufbauende Wirkung und verstärkt die Knorpel- und Knochenneubildung.
Es fördert das Entstehen sexuellen Verlangens (Libido), außerdem den Antrieb, die Ausdauer und „Lebenslust“, sowie dominante und aggressive Verhaltensweisen. Als verhaltensbiologische Wirkungen bei Tieren wurden Imponiergehabe, Kampfverhalten sowie Begattungsdrang erforscht und beobachtet.

Dasselbe gilt wohl auch für den Menschen.

Im Alter findet also eine geringere Produktion dieser Hormone im männlichen Körper statt, was natürliche Auswirkungen auf die „männlichen Merkmale“ hat: Die Libido lässt nach, der Mann wird ruhiger, die morgendliche Erektion wird seltener oder schwächer. Man könnte sagen, dass die Männlichkeit im Sinne dieser Merkmale nachlässt, besser gesagt: ruhiger wird.

Hormone steuern maßgeblich unser Verhalten, nicht zuletzt auch unsere Gedanken und damit unser Befinden. Man kann diesen Mechanismus als ein ständiges Rückkoppelungssystem ansehen. Fühlen wir uns schlecht, werden entsprechende Hormone produziert oder eben auch nicht, was bewirkt, dass wir uns (subjektiv) schlecht fühlen. Das Gegenteil ist genauso der Fall.
Ein neuerer Forschungszweig befasst sich mit diesen Mechanismen, besonders mit dem der Proteinproduktion.

Hormone gehören zu den Proteinen, sie werden in den entsprechenden Zellen nach Maßgabe produziert, will heißen, es entstehen oft Hormonketten, an deren Ende dann erst die Produktion des eigentlichen Hormons stehen. Der Bauplan für unsere Hormone ist auf unseren Genen (DNA) zu finden. Über die eigentliche Produktion entscheiden allerdings wohl nicht unsere Gene, sondern sogenannte Epigene. Epigene sind die Steuereinheit unserer DNA , sie entscheiden, ob und welche Sequenz gelesen und ausgeführt wird oder nicht.

Während Gene sich über Jahrhunderte oder gar Jahrmillionenen verändern, ist es möglich Epigene in wesentlich kürzeren Zeiträumen zu verändern und somit auch unsere Hormonlage, unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit und unser Altern.

Auch wenn Epigenetiker noch keine ausreichenden Daten haben, so kann man heute bereits sagen, dass Umwelteinflüsse auf unsere Gene einen wesentlich größeren Einfluss haben, als gedacht.
Dauerstress bewirkt nach ersten Erkenntnissen beispielsweise derart auf unsere Gen-Steuerung, dass „schädliche“ Programme aktiviert werden, während ein subjektiv als positiv empfundenes Leben wiederum eine positive Gensteuerung bewirkt. In alldem sucht die Wissenschaft freilich einen Sinn und nicht selten kommt der gesunde Menschenverstand zum Tragen.

Ungeborene, die einem erhöhten Stress ausgesetzt sind (schlechte Ernährung, negative Gefühle am Beispiel von Trauer erforscht) bekommen signalisiert, dass sie in eine stressreiche Umgebung herein geboren werden. In Konsequenz stellt sich der Körper darauf ein, bei kleinsten Signalen zukünftig mit den üblichen Stresssymptomen zu reagieren. Dies geschieht, weil epigenetisch festgelegt wird, dass die dazu führenden Hormone vermehrt und schneller produziert und ausgeschüttet werden, als dies bei Menschen der Fall ist, die unter weniger stressigen Bedingungen heran- und aufgewachsen sind.

Sportliche Aktivitäten, mäßige Ernährung mit natürlichen Nahrungsmitteln (Keine Vitamin-Zusatzstoffe, die sind, nach neueren Untersuchungen teils sogar durchaus schädlich) und vor allem eine positive geistige Einstellung zu den Themen des Alters bewirken ein Umlegen der Schalter, können bestimmte Prozesse im Körper verlangsamen oder gar ganz stoppen, in dem DNA-Programme ausgeschaltet oder zumindest reduziert werden.

Was dem Körper gut tut

Hormonelle Vorgänge lassen sich nun nicht gänzlich stoppen, zumindest wurde die entsprechende Vorgehensweise dafür noch nicht gefunden und wird es so schnell vermutlich auch nicht, vielleicht sogar nie.

Mit dem Wissen allerdings, dass unsere Gene und unsere Hormone nicht zwangsweise so sein müssen, wie wir sie zu einem bestimmten Zeitpunkt erleben, lässt einige Rückschlüsse auf günstiges Verhalten zu, um den Prozessen des Alters zu begegnen.

was sich in der Therapie bewährt, sind ausreichender, allerding auch nicht zu viel Schlaf, ausreichende Bewegung (mäßiger Sport fördert die Hormonregulation) an der frischen Luft, Obst, Gemüse, Wasser – eigentlich all das, was man ja ohnehin schon weiß aber nie macht.

noch vertretbar ist z.B. die Anregung der körpereigenen Hormonregulation durch natürliche Stoffe, wie Pflanzentinkturen, Tees aber auch Zink (regt v.a. bei Männern die nachlassende Testosteronproduktion ganz sanft wieder an, wobei man hier immer wieder mal pausieren sollte, um den Körper immer wieder neu anregen zu können; außerdem ist Zink ein ganz wichtiger Stoff zur Immunabwehr, auch ein häufiges Problem des fortgeschrittenen Alters).

Soweit die körperlichen Eigenheiten fortschreitenden Alters und die Möglichkeiten, diesen Veränderungen zu begegnen und sie evtl. milder ausfallen zu lassen.

Das Älterwerden wirkt allerdings in einem anderen Bereich viel stärker, und vielleicht ist es dieses Einwirken, dass uns die vergleichsweise milden körperlichen Symptome überhaupt erst wie eine mittelschwere Katastrophe aussehen lassen. Es ist unsere Psyche, die, wie eben schon gesagt, unser körperliches Empfinden maßgeblich beeinflusst und sogar körperliche Aktionen und Reaktionen auslöst (siehe hierzu die Epigenetik).

Unsere Psyche erzeugt ein klares Bild von der Welt, nicht immer ein gutes aber zumindest eines, an das wir glauben und das wir verwirklichen, zumindest, solange wir daran festhalten. Dieses Bild entwerfen wir nicht alleine, sondern wir richten uns in großen Teilen nach den derzeitig gültigen gesellschaftlichen Konventionen, die ich im Folgenden kurz betrachten möchte.

Gesellschaftliche Konventionen

Alter

Mit 40 also haben wir die Mitte des Lebens erreicht, das halbe Leben hinter uns. Das stimmt natürlich so nicht, denn, mal das statistische Mittel von ca. 80 Jahren Lebenszeit vorausgesetzt, wir haben mit 40 noch weit mehr bewusstes Leben vor als hinter uns. Und trotzdem beginnen wir in diesem Alter nicht selten, das fortschreitende Alter vor uns zu sehen, das Altwerden mit all seinen vor allem werbemäßig gut gestreuten Nachteilen, die (natürlich) medikamentös aufgefangen werden können.

Da werden kleine Wehwehchen (Rückenschmerzen, leichter Bauchansatz, etc,), die man durchaus auch im jüngeren Alter bereits hatte plötzlich nicht mehr als körperliche Eigenheit aufgefasst, sondern ganz klar dem Alter zugeschrieben.

Seit einigen Jahren wird viel über die zukünftige überalterte Gesellschaft geschrieben und publiziert und, obwohl wir noch gar nicht dazu gehören, betrachten uns jetzt schon als Teil dieser lästigen Generation, die Supermarktkassen in morgendlichen Stunden bevölkert, Kranken- und Rentenkassen unnötig belasten und somit der jüngeren Generation das Recht auf ein gutes Leben nimmt.

Lösbar ist das Problem der Überalterung allenfalls durch die Zuwanderung von jungen Fremden, die seit der aufbrandenen Diskussion um das Buch von Thilo Sarrazin ja nun auch keinen guten Ruf mehr genießen.

Kurz gesagt: wir haben allen Grund, vor dem Alter Angst zu haben, Angst davor, in einem mittelklassigen Pflegeheim dahin zu vegetieren, weil unsere Rente für nicht viel mehr reicht. Abgeschoben, lästig und wachstumshemmend. Das ist das Bild, das wir vom Alter haben oder, wenn dies noch nicht der Fall ist, bekommen, weil Publizisten und Statistiker nicht müde werden, uns mit diesen Prognosen zu füttern.

Nochmal: das sind Gedanken, die sich uns in der Mitte des Lebens heutzutage durchaus aufdrängen und das, obwohl wir noch mitten im Leben stehen und noch weit davon entfernt sind, alt zu sein.

Alter ist in diesem Gesellschaftlichen Sinne also weniger eine biologische als eine politische Frage. Und wenn wir schon Publizisten nicht davon abhalten können, dieses Thema so zu beschreiben, wie sie es eben tun, so können wir uns selbst Einhalt gebieten und ein anderes Bild in unserem Kopf entwerfen.

Bilder des Mannes

Wir definieren uns auf eine sehr natürliche Weise mit unserem Geschlecht. Das macht sich im Namen und vielerorts auch in Positionen (bspw. im Wirtschaftlichen aber auch im familiären Bereich) bemerkbar.

Wir leben, das kann man zweifelfrei behaupten, in einer Gesellschaft, in der Äußerlichkeiten viel Wert beigemessen wird. Dazu gehört das Aussehen und die Potenz (dieses Wort sei hier in Bezug auf die allgemeine Leistungsfähigkeit verwendet, natürlich auch auf den sexuellen Bereich).

Wer aber bin ich, wenn ich meine Manneskraft nicht mehr in dem Maße einsetzen kann, wie ich es einst konnte, wenn mich jüngere Kollegen auf Grund einer stärkeren Körperkraft und somit Leistung überholen können und es auch tun?
Bin ich überhaupt noch ein Mann, wenn all diese Merkmale weniger werden oder gar ganz schwinden?

Es sind in erster Linie diese gesellschaftlichen Bilder, die den Mann in den Wechseljahren (ver) zweifeln lassen. Und es ist dringend erforderlich, sein Mannesbild den Umständen anzupassen und zu respektieren. Denn schließlich ist es ja nicht so, dass es nur diese Merkmale sind, die den Mann oder den Menschen ausmachen.

Vielleicht ist es nötig, im Alter zu respektieren, dass es nicht mehr nur auf das Geschlecht und den ihm zugewiesenen Rollen , sondern auf geschlechtsübergreifende Merkmale und vor allem Fähigkeiten ankommt.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass auch wir dazu beigetragen haben, dieses Alters- und Rollenbild mit entworfen haben, eben zu Zeiten, in denen wir jünger waren. Nun sind wir konfrontiert mit diesem Bild und müssen (und dürfen!) es unter Umständen revidieren.

Psyche

Wie bereits gesagt, wirkt sich die Psyche, also rein wissenschaftlich ausgedrückt: die Hirnaktion auf körperliche Geschehnisse aus und umgekehrt. Wir leben in einer ständigen Rückkoppelungsschleife zwischen Gedanken und Gefühlen, zwischen Hirnaktivität und Hormonsteuerung. Die Frage, ob eine negative Einstellung oder die körperliche Entsprechung in Form hormoneller Vorgänge zuerst da waren, ist also berechtigt und es spricht mehr dafür als dagegen.

Eines lässt sich sicher nicht wegdiskutieren: Wir werden älter und unser Körper verändert sich mit dem Alter. Ebenso verändert sich auch unser Geist mit dem Alter. Wir haben ungleich mehr Erfahrungen gesammelt, haben unsere Schlussfolgerungen gezogen, haben Rebellionen und deren Scheitern erlebt und wissen heute, dass manche Weg wichtig sind, deshalb aber trotzdem nicht funktionieren.

In früheren Kulturen wurde diese Erfahrung sehr deutlich in das Leben integriert. Sie wurde besonders auch von den jüngeren Menschen gezielt abgerufen und geachtet. Die „Alten“ hatten ihren Platz.

Weg von Wissenschaftlichen Erhebungen verspüre ich bei mir und bei den Menschen, mit denen ich die Midlife-Crisis diskutiere die folgenden Dinge:

Mit dem (subjektiv) Näherkommen der Themen „Alter“ und „Tod“ stellt sich die Frage nach dem bisherigen und dem noch folgenden Leben. Dies sind Fragen, die, wenn sie nicht befriedigend beantwortet werden können, überhaupt erst die Krise ausmachen:
Habe ich mein Leben so gelebt, wie ich es leben wollte?
In den meisten Fällen tauchen hier die unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse auf. Es werden neue Partnerschaften gesucht, vielleicht nochmal ein Kinderwunsch geäußert, Berufswechsel bedacht, neue Freiheiten wollen entdeckt und gelebt werden. Es wird nach einer Selbstverwirklichung gestrebt, von der man glaubt, sie bisher nicht gehabt zu haben.

Das stimmt und stimmt so auch wieder nicht, denn natürlich haben wir uns bis hierhin verwirklicht. Wir haben vielleicht eine Familie gegründet, Kinder groß gezogen, ein Haus gebaut.
Vielleicht haben wir uns aber auch voll und ganz auf unsere Karriere konzentriert und eine veritable Position mit hohem Einkommen erreicht, oder wir sind um den gesamten Erdball gereist und haben uns die Welt angeschaut.

Jedenfalls haben wir das verwirklicht, was uns bisher wichtig erschien, sei es Familie, seine es Kinder, sei es ein Single-Leben oder sei es die berufliche Karriere oder ein Mix aus alledem.

Und nun kommen wir an einen markanten Punkt, der Mitte unseres Lebens nämlich, an dem uns auffällt, dass sich unsere Bedürfnisse geändert haben. Vieles haben wir erreicht und getan, was wir erreichen wollten, vielleicht weil es uns in diesem Abschnitt unseres Lebens wichtig erschien oder auch vielleicht, weil es anderen für uns wichtig erschien und wir diesen Ansprüchen genügen wollten.

Doch wir hinterfragen unser Leben und unser Wirken letztlich zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens und orientieren uns immer wieder um. Im Angesicht des sich nähernden Älterwerdens (und der Angst davor) allerdings scheint uns diese Frage und die Antworten darauf wesentlich gewichtiger zu werden. Daher rühren vielleicht auch die extremeren Verhaltensweisen.

Getrieben von der Angst älter zu werden (nicht zu sein!), wollen wir plötzlich alles sofort nachholen, obwohl immer noch viel Zeit ist.

So scheint es nicht das Überdenken und die daraus folgende Neuorientierung zu sein, die uns in der Midlife-Crisis so seltsam aussehen lassen, sondern eher die übertriebene Konsequenz und der Zeitdruck, mit der wir diesen Wechseln vollziehen wollen, immer in dem Glauben, der sich in uns festgesetzt hat, dass kaum noch Zeit bestünde, die Dinge neu zu gestalten.

Nochmal: Es ist natürlich und wichtig, unser Leben zu hinterfragen und neu zu gestalten. Motiviert uns (Männer) aber in jungen Jahren Ehrgeiz und Abenteuerlust, Neues auszuprobieren, so ist es in der Midlife-Crisis wohl eher die Angst. Und genau das lässt einen völlig natürlichen und legitimen Prozess dann eher hektisch und unnatürlich aussehen. Hier liegt so auch vielleicht der Schlüssel, einen natürlichen Prozess zu nutzen.

Verbote wachsen im Alter

Ein weiterer Punkt ist wichtig, betrachtet zu werden. Aus irgendeinem Grund herrscht die Meinung, dass Mann im Alter besonnener, ruhiger, ja, weiser werden muss. Und plötzlich sind Verhaltensweisen, die man bei jungen Menschen noch bewundernd zur Kenntnis nimmt, mit zunehmendem Alter plötzlich unangemessen.

Selbstverwirklichung, ob es ein sportliches Auto oder eine junge Partnerin oder ein junger Partner ist, ob es eine Weltreise mit Zelt und Rucksack oder das Erlernen spiritueller Techniken ist. All diese Dinge werden mit zunehmendem Alter belächelt, nicht selten von jenen, die sich einfach nur nicht trauen, nochmal etwas ganz anderes zu machen.

Und genau dieser Druck ist es, der uns davon abhalten kann, das zu tun, was wir glauben, tun zu müssen.

Systemische Effekte

Neben unseren eigenen Restriktionen haben wir es auch noch mit systemischen Effekten zu tun. Die Partnerin oder der Partner, der Angst hat, plötzlich einen ganz anderen Mann zu bekommen. Statt die Veränderung zu begrüßen, wird sie beim Partner bekämpft und verurteilt, vielleicht, um sich selbst nicht verändern zu müssen.

Ängste kommen hoch. Was, wenn ich als PartnerIn meinem sich verändernden Mann plötzlich nicht mehr genüge? Was, wenn ich den Mann nach seinem Veränderungsprozess nicht mehr mag? Nicht selten wird von Seiten unserer Weggefährten aus durchaus nachvollziehbaren Ängsten versucht, unseren Veränderungswunsch zu unterdrücken, ihn ins lächerliche zu ziehen mit dem Ziel, dass wir so bleiben, wir waren sind.

Und genauso oft scheitert diese Blockade und führt überhaupt erst zu der Entfremdung, die man doch vermeiden wollte. Entweder, weil der Partner jetzt erst recht und mit umso mehr Entschiedenheit eine Veränderung herbeiführt, oder weil er sie eben nicht herbeiführt und nun die Schuld beim Partner sucht.

Fazit

Wir können das Alter nicht aufhalten aber wir haben seinen Verlauf zu einem nicht unerheblichen Teil in der Hand.
Auf der körperlichen Ebene lassen sich Prozesse entscheidend positiv beeinflussen, in dem wir zu einer guten Ernährung und vor allem zu sportlichen Aktivitäten finden. Die Epigenetik lehrt uns, dass solche Verhaltensweisen positive Signale auf unseren gesamten Stoffwechsel aussenden, ihn verändern und somit „gesunde“ Programme aufrufen.

Auf der psychischen Ebene wird es Zeit, die Mitte des Lebens nicht mit dem Altern zu assoziieren, weil wir mit 40 oder 50 nach heutigen Maßstäben eben noch lange nicht alt sind und weil wir die gesellschaftlichen Folgen des Älterwerdens eben nicht linear betrachten können. Kaum ein Szenario hat sich je bewahrheitet, seien es konjunkturelle oder gar noch viel komplexere gesellschaftliche Szenarien. Sie dienen nur denen, die ihr Geld mit solchen Szenarien verdienen und sich im Gegenzug Wirtschaftsweise nennen dürfen.

Vielmehr gilt es, den gedanklichen Umbruch zu nutzen, und zwar nicht in Torschlusspanikartiger Eile, sondern in der Besonnenheit, die jeder Umbruch verdient. Nur so können wir unsere erworbene Erfahrung, Klugheit und vielleicht auch Weisheit für gute Entscheidungen nutzen, die zu einem weiteren langen Leben führen.

Ausgestattet mit diesem neuen Bild über die Mitte des Lebens und dem Älterwerden sollte es uns leichter fallen, neu entdeckte oder bisher nicht gelebte Bedürfnisse gut zu kommunizieren, so dass auch unsere Weggefährten oder Partner nicht nur Verständnis für diesen Wandel haben, sondern ihn auch unterstützen und bestenfalls ebenso davon profitieren.
Älterwerden ist größtenteils ein Bild, das wir im Kopf haben, ein Bild, das von Medien und von anderen Menschen mit geformt wurde und wird.

Was ist so schlimm daran?

Zum Schluss möchte ich Sie ermutigen, eben diese Konventionen ganz klar zu missachten! Ich möchte sie ermutigen, zu Ihrer Entwicklungsfähigkeit zu stehen. Ich möchte Sie ermutigen, in jedem Alter zu zeigen, wo Ihre Bedürfnisse liegen, seien es alte, bisher nicht gelebte oder gar ganz neu aufgetauchte, denn, mal ganz ehrlich:

Was ist so schlimm daran, körperliche Veränderungen, die dem Alterungsprozess geschuldet sind, kosmetisch aufbereiten zu lassen, Schlupflider zu entfernen oder Brüste schönheitschirurgisch formen zu lassen, und so zu einem angenehmeren Körpergefühl zu finden?

Was ist so schlimm daran, Sport zu treiben und sich anders zu ernähren, mit dem Ziel, seinen Körper in Form zu bringen, um so sich selbst und damit auch anderen, auch jüngeren, wieder zu gefallen?

Was ist so schlimm daran, seine sexuelle Potenz medizinisch (mit Viagra, o.ä.) zu unterstützen, um die ein oder andere schöne Stunde mit einem adäquaten Partner zu verbringen?
Was ist so schlimm daran, sein Image mit einem schönen Auto aufzupolieren?

Was ist so schlimm daran, wenn neben einem 55jährigen Mann plötzlich eine 3ojährige Blondine sitzt oder wenn neben einer 55jährigen Frau die 25jährige Muße Oliver sitzt?

Ich sage es Ihnen: So schlimm daran ist eigentlich nur, dass der 25jährige Oliver nicht neben uns sitzt.

Leben Sie wohl!

Leben heißt, Probleme lösen

Dieser weise Spruch stammt nicht von mir, wie so vieles in diesem Buch. Reinhold Messner hat ihn zum Besten gegeben. Wenn Sie mögen, können Sie das Wort „Probleme“ auch gerne durch „Herausforderungen“ ersetzen. Das Ergebnis bleibt dasselbe.

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